Der Ring
musste man ihr lassen: Sie warf niemals den ersten Stein.
Jetzt seufzte sie. »Tut mir leid.«
»Schon okay.«
Sie grinste. »Wie sah er denn aus? War er süß?«
»Lass den Scheiß!« Einen Augenblick lang sagte ich gar nichts mehr. »Na ja, er sah ganz gut aus. Und es hat mir wirklich leidgetan, dass wir ihm seine Pflanze zertreten haben.«
»Dann bring ihm halt eine neue.«
»Meinst du wirklich?«
»Und erkundige dich, wer er ist. Mother Redd weiß bestimmt Bescheid. Oder ruf die Baskins an.«
Am liebsten wäre ich ihr um den Hals gefallen, aber ich musste mich mit einem Winken begnügen.
Mother Redd war im Gewächshaus, wo sie gerade ihre Hybridgurken bewässerte, pflückte und unter dem Mikroskop begutachtete. Früher hatte sie als Ärztin gearbeitet, doch nachdem eine Version von ihr gestorben war, hatte sie sich lieber ein neues Betätigungsfeld gesucht, als eine in ihrer Kompetenz beeinträchtigte Medizinerin abzugeben. Also hatte sie – eine »Sie« war sie auf jeden Fall, denn ursprünglich hatte sie aus vier weiblichen Klonen bestanden – die Farm übernommen, und im Sommer durften wir bei ihr wohnen. Wir mochten sie, sie war eine freundliche, kluge, fast schon weise Frau, aber jedes Mal, wenn ich mit ihr sprach, fragte ich mich unwillkürlich, wie viel intelligenter sie als Quartett gewesen sein mochte.
Die Mother Redd, die die Gurken unter dem Lichtmikroskop betrachtete, blickte auf. »Stimmt was nicht, Liebes? Was treibst du dich ganz allein hier draußen herum?«
Ich zuckte mit den Schultern. Eigentlich wollte ich ihr nicht sagen, warum ich meinem Pod aus dem Weg ging. »Wir waren drüben beim See der Baskins. Da wohnt jetzt ein Singleton. Was ist das für ein Typ?«
Der scharfe Gestank von Mother Redds Gedanken schwängerte die Luft, ein undurchschaubares Gewirr von Symbolen, das uns von klein auf vertraut war. Aber mir fiel auf, dass sie intensiver nachgrübelte, als für eine schlichte Antwort nötig gewesen wäre. Erst nach einer ganzen Weile hatte sie sich für eine Reaktion entschieden. »Malcolm Leto. Er gehört zur Community.«
»Zur Community! Aber die sind doch alle … gegangen.« Was natürlich der falsche Ausdruck war; Quant hätte die gängige Bezeichnung für das Schicksal von neun Zehnteln der Erdbevölkerung gewusst. Für das Schicksal der Menschen, die den Ring erschaffen hatten, den Ring und den gigantischen kybernetischen Organismus, den man »die Community« getauft hatte. Der wissenschaftliche Fortschritt hatte sich exponentiell beschleunigt, vor allem Physik, Medizin und Ingenieurwissenschaften hatten unglaubliche Fortschritte gemacht, bis die Mitglieder der Community plötzlich auf einen Schlag verschwunden waren. Alle. Der Ring und die Erde waren allein zurückgeblieben – abgesehen von den wenigen Menschen, die sich der Community verweigert hatten und nicht im Chaos der Genkriege umgekommen waren.
»Ja«, erwiderte Mother Redd. »Aber der hier hat den Exodus verpasst.« Exodus, das war das Wort. »Er hatte einen Unfall. Sein Körper wurde künstlich am Leben erhalten, bis er wiederhergestellt werden konnte.«
»Also ist er das letzte Mitglied der Community.«
»Könnte man sagen, ja.«
»Danke.« Ich verabschiedete mich, ging meinen Pod suchen und fand ihn schließlich vor dem Computer, bei einer virtuellen Schachpartie gegen unsere Klassenkameradin Willow Murphy. Darauf hätte ich eigentlich gleich kommen können, denn heute war Donnerstagabend, Quants Hobbyabend, und sie stand auf Strategiespiele.
Ich nahm Stroms Hand und ließ mich in das Netz unserer Gedanken gleiten. Es stand schlecht für uns, aber Murphy war auch eine würdige Gegnerin, und ohne mich und Moira waren wir nur zu dritt gewesen. Sofort hatte ich das Gefühl, dass die anderen mir immer noch nicht verziehen hatten. Aber ich ging nicht darauf ein, sondern lud einfach die gesammelten Informationen über Malcolm Leto bei ihnen ab.
Das Schachspiel verschwand aus unserem Denken, der Pod konzentrierte sich ganz auf mich.
Er gehört zur Community. Er war im All.
Was macht er hier?
Er hat den Exodus verpasst.
Er sieht gut aus.
Er war im All. Auf dem Ring.
Wir müssen mit ihm sprechen.
Wir haben seine Tomatenpflanze zertreten.
Also müssen wir ihm eine neue bringen.
Richtig.
Richtig.
»Im Gewächshaus sind Tomaten«, meinte Strom. »Ich kann eine in einen Topf umpflanzen, als Geschenk.« Stroms Hobby war Gärtnern.
Ich blickte die anderen an. »Also morgen?«
Ein
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