Der Ring
konnte jede Richtung genommen haben, rechts vorbei, links vorbei, oder mitten durchs Wasser, um sich an jedem beliebigen Punkt in die Büsche zu schlagen. Ein geübter Fährtenleser hätte vielleicht gewusst, wie seine Route verlaufen war, aber wir konnten nur raten.
Eine Wolke der Enttäuschung legte sich über uns. Ich beschloss, den anderen ins Gedächtnis zu rufen, dass wir heute schon enorme Fortschritte gemacht hatten. Wir fassten uns an den Händen und versenkten uns in den Konsens.
Wir sind nah dran, sandte ich. Sehr nah.
Wir werden sie finden. Ich weiß es.
Wir haben uns sicher bis auf hundert Kilometer genähert.
Trotzdem hing eine Spur Verzweiflung in der Luft, als wir das Zelt aufstellten und uns ein Abendessen angelten. Niemand wollte es laut denken, aber ich wusste, dass auch die anderen ihre Zweifel hatten: Wie lange konnten wir in dieser Wildnis noch überleben? Wann würden wir in die Zivilisation zurückkehren und uns dem Overgovernment stellen müssen?
Einerseits wollte ich unsere zarten Hoffnungen nicht im Keim ersticken; andererseits wusste ich, dass wir nicht bis in alle Ewigkeit davonlaufen konnten.
Als uns Strom am nächsten Tag über einen bewaldeten, von Tierpfaden durchzogenen Kamm führte, schrie er plötzlich laut auf. Während wir zu ihm aufschlossen, sahen wir sie durch seine Augen: eine Erdgrube, einen Meter tief und drei Meter breit, in der offensichtlich einige Bären übernachtet hatten. Staunend stieg ich hinab in die Vertiefung, schwer beeindruckt von den Tieren, die hier gehaust hatten. Aus Stroms Erinnerung wussten wir, wie groß sie waren, aber nur im Verhältnis zu ihm, der selbst um einiges größer war als wir anderen. Erst jetzt dämmerte mir, wie riesig sie im Vergleich mit mir sein mussten.
Riecht ihr das ?, fragte Strom.
Wir erkannten den einzigartigen Duft: Bären.
Strom nickte. Wir sind nah dran.
Am Fuß des Kamms lag ein stiller Bergsee. Wir blickten hinüber ans gegenüberliegende Ufer, wo zwei Elche am Gras rupften. Wahrscheinlich waren wir die ersten Menschen seit Jahrzehnten, die diesen Anblick genießen durften.
Strom führte uns hinab zum Wasser.
Hier haben sie sich im Matsch gewälzt, sandte Manuel.
Die Spuren waren noch frisch, Abdrücke mächtiger Tatzen, so lang wie Stroms Fuß und so breit wie meiner. Wir folgten ihnen auf die andere Seite des Sees. Vielleicht hatten sie Elche gejagt?
Unterwegs sammelten wir Brombeeren, die hier überall wucherten. Überhaupt war dieses Land noch freigebiger als der Dschungel, auch wenn diese Exemplare einen bitteren Nachgeschmack hinterließen. Wahrscheinlich waren sie noch nicht ganz reif. Ich warf eine halbzerdrückte Beere auf Manuels Rücken und wandte mich schnell ab, um Nachschub zu holen, ehe er das Feuer erwiderte.
Hinter dem Strauch schnaubte es. Während ich erstarrte und automatisch einen Schwall Angstpheromone ausstieß, richtete sich die Bestie vor mir auf. Ein Grizzly, drei Meter hoch, mit blondem Fell und hellbraunen Augen, die mich durchdringend anstarrten. Brombeerfarbener Speichel troff von seinen Lefzen, als sich das Schnauben in ein Knurren verwandelte.
Ich musste es versuchen. Freund?
Nein, dieser Bär verströmte weder Pheromone noch chemische Erinnerungen, sondern nur den muffigen Moschusgeruch, den wir schon aus der Erdgrube kannten. Das war kein genmodifizierter Bär; das war ein wildes Tier.
Nicht bewegen. Nicht umdrehen, nicht weglaufen.
Tatsächlich wäre ich fast gerannt, obwohl ich mir auch ohne Quant ausrechnen konnte, wie das ausgehen würde: Mein kümmerlicher Menschenkörper schaffte bestenfalls zwanzig Stundenkilometer, während ein Bär über kurze Distanz auf bis zu sechzig Stundenkilometer beschleunigen konnte.
Meine Angst wich rationaleren Überlegungen. Immerhin konnte ich meinen Gegner über den Pod aus allen Richtungen beobachten. Sein eingedrücktes Gesicht war breiter als mein Oberkörper, und an seinem Schädel, den er zähnebleckend hin und her schwang, klebten erstaunlich kurze Ohren.
»Hau ab!«, schrie Strom. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie er einen Ast durch die Luft sausen ließ, den er zwischen den Felsen am Ufer des Sees gefunden hatte.
Langsam zurückweichen, riet Meda.
Ich trat einen Schritt zurück, dann noch einen. Der Bär bewegte sich nicht. Erst beim dritten Schritt attackierte er.
Im letzten Moment hechtete ich nach rechts. Während ich über den Kies schlitterte, rauschte der Bär an mir vorbei, riss seinen mächtigen Körper aber
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