Der Riss
Kontorsionen konzentriert hat?“
Bedächtig zeichnete Madeleines faltige Hand Figuren auf den zerkratzten Tisch. „Nicht so ganz, Rex. Die Finsternis schien zusätzlich welche herzustellen.“
„Herstellen?“ , fragte Dess. Die Falten in der Midnight waren in die Karten eingebrannt. „Man kann Längen- und Breitengrade nicht einfach wie Grundstücksgrenzen verschieben!“
„Und die Darklinge bewegten sich auf die Risse zu“, ergänzte Melissa leise. „Sie konnten sie ebenfalls spüren.“
Maddy stand auf, ging den Tisch herum und legte Melissa eine Hand auf die Schulter. „Wir haben die Erfahrungen aber noch nicht verglichen. Wir sagen Bescheid, wenn wir mehr wissen. Ich bin sicher, dass ihr euch selbst beschäftigen könnt.“
Die beiden machten sich auf den Weg zum Dachboden.
Rex sah für einen schlecht kaschierten Moment zum Schreien eifersüchtig aus, dann schlug er einen bemüht sachlichen Ton an. „Gut, ich sehe in einigen von den älteren Büchern der Lehre nach“, rief er Maddys sich entfernenden Schritten hinterher. „Für alle Fälle.“
Dess stöhnte. „Und während die beiden ihre Gedankenleserzeit nehmen, werde ich mir ein paar Karten ansehen.“
Rex zog eine Augenbraue hoch und sah Jonathan an. Ohne Jessica war der Flyboy irgendwie hilflos – konnte nicht in der Lehre lesen, keine Berechnungen anstellen, und jetzt am Nachmittag noch nicht einmal fliegen. Dess tat er leid. Was sollte er tun? Vorhänge waschen?
„Äh, ich habe mich gerade gefragt“, stotterte Jonathan, „ob sie eigentlich einen Fernseher hat?“
Das Haus roch allmählich weniger alt und muffig, als ob ihm die ersten Gäste nach einem halben Jahrhundert etwas Leben eingehaucht hätten. Aber sobald Dess irgendetwas bewegte, ein Buch oder eine Karte vom Regal nahm, wirbelte Staub auf, der sie zum Niesen reizte. Wenn sie bis spätabends hier gearbeitet hatte, fühlten sich ihre Finger stets trocken und spröde an, als ob der alte, durstige Staub die Feuchtigkeit aus ihnen herausgesogen hätte.
Während sie das Esszimmer geputzt hatte, war Dess auf einen Kartenvorrat von Maddy gestoßen, gelbe Rollen aus schwerem Papier, die einem praktisch in den Händen zerkrümelten. Die ältesten trugen spanische Randbemerkungen, weshalb Jonathan mit den Übersetzungen zu tun hatte, obwohl er die spillerige, altmodische Handschrift anstrengend fand. Dess interessierte sich natürlich in Wirklichkeit weniger für die Worte. Die geheime Stunde lag genau bei 36 Grad Nord und 96 West, und aus diesen Koordinaten flossen alle Merkwürdigkeiten in Bixby. Hier ging es ausschließlich um Zahlen.
Dess’ interessanteste Entdeckung war, wie die frühen Karten der Midnighter mit späteren Bemühungen übereinstimmten. Zum einen waren damals weder GPS noch anständige Uhren erfunden, weshalb die Zahlen auf Sternbildern und Mutmaßungen beruhten. Je weiter man also zurückging, desto gekrümmter und verzerrter sah alles aus, als ob sie sich die Welt damals durch eine Colaflasche angesehen hätten. Und natürlich hatten die Midnighter im Lauf der Zeit mehr über die geheime Stunde herausgefunden. Mit jedem Jahrzehnt erfassten die Karten der Midnighterdomäne größere Teile von Oklahomas Südwesten oder des Indian Territory oder Mexikos – je nachdem, wer zuletzt wo geklaut hatte.
Dess hatte eine Stunde friedlich am Esstisch verbracht, in die langsame Entwicklung der Midnighterkartografie vertieft, als sie aufschrak, weil sich eine kühle Hand auf ihre Schulter legte.
„Desdemona?“
„Mensch! Wie können Sie mich so erschrecken?“ Dess sah vorwurfsvoll auf Maddys Hand. Wenigstens hatte die Gedankenleserin nicht ihre nackte Haut berührt.
„Oh, entschuldige bitte.“ Die schrumpelige Hand zog sich zurück. „Ich dachte nur, du würdest dir das hier gern ansehen.“
Madeleine legte eine Papierrolle auf den Tisch. Die Karte stammte aus den Dreißigerjahren, es war die erste Karte, die Maddy Dess je gezeigt hatte, damals, als es nur sie beide gab.
Aber jetzt war sie mit einer Schicht aus farbigen Schlangenlinien bedeckt, als ob ein Kind einen roten und einen blauen Stift mit dem Ouija-Board-Zeiger einfach hätte laufen lassen.
„Sie haben mit Melissa darauf herumgemalt“, stellte Dess verärgert fest. Nachdem sie jedoch eine Weile auf die Karte gestarrt hatte, begann sich ihr Gehirn mit den neuen Wirbeln und Schleifen zu beschäftigen. Die Markierungen der Gedankenleser schienen den normalen Kontorsionen der Midnight Substanz zu
Weitere Kostenlose Bücher