Der Riss
auf den Hinterkopf ihres Vaters. Redete Beth über Jonathan? Seit Jess die beiden einander vorgestellt hatte, ging sie davon aus, dass Beth in Sachen Freund auf ihrer Seite war. Jedenfalls hatte sie Mom und Dad nichts über seine nächtlichen Besuche und Jessicas späte Ausflüge erzählt.
„Was meinst du damit, Beth?“
„Wollte bloß, dass du es weißt.“
„Dass ich was weiß?“
„Dass ich, auch wenn du keinen Hausarrest mehr hast, ein Auge auf dich habe.“
Jessica seufzte noch einmal. „Beth, hör auf, dich seltsam zu benehmen. Dad, sag Beth, sie soll aufhören, sich seltsam zu benehmen.“
Don Day schwieg eine Weile. Schließlich sagte er: „Nun, Jessica, irgendwie verstehe ich, was sie meint. Schließlich habe ich auch ein Auge auf dich.“
bodensatz
3.27 Uhr nachmittags
5
„Milch, keinen Zucker, stimmt’s?“
„Ja, bitte.“ Dess lächelte höflich, aber der bittere Geschmack von Madeleines Tee kribbelte bereits in ihrer Einbildung, die saure Würze des Betrugs lag ihr auf der Zunge.
Im Grunde müsste dieser geheime Ort ihre Spielwiese sein.
Schließlich war es Dess gewesen, die Madeleine ausfindig gemacht hatte. Sie hatte sich durch schlaflose Nächte gekämpft, um die wirren Träume zu entschlüsseln, die die alte Gedankenleserin ihr geschickt hatte. Sie hatte die Berechnungen angestellt.
Aber das war alles nur für Melissa und Rex geschehen. Sie waren es, die sich hier in Madeleines temporaler Kontorsion, ihrem kleinen Versteck, richtig wohl fühlten. Endlich hatte Rex so viel Lehre, wie er sich nur wünschen konnte. Lesestoff für viele Jahre wartete hier in diesem Haus auf ihn, lauter Dokumente, die die Überlebende der letzten Midnightergeneration mit in ihr Versteck hatte retten können.
Und Melissa … die hatte den ersten Preis gewonnen.
Dess fiel auf, dass sich die Finger der beiden Gedankenleserinnen kurz berührten, als Melissa ihre Tasse von Madeleine entgegennahm. Beide grinsten über einen still geteilten Witz.
Bei dem Anblick bekam sie eine Gänsehaut. Die beiden kommunizierten hauptsächlich mittels Gedankenübertragung, selten tauschten sie Worte aus. Dess fragte sich, was sie sich jetzt gerade erzählten.
Von der gegenüberliegenden Seite des großen Esstischs beobachtete Rex sie ebenfalls. Außer Rex war Madeleine die einzige Person, von der sich Melissa berühren ließ – was außerdem sowieso niemand wollte –, er schien auf kleine Momente wie diesen jedoch nicht eifersüchtig zu sein. Es waren die langen Sitzungen, wenn sich die beiden Gedankenleserinnen stundenlang mit verschlungenen Händen in die Augen sahen, die dazu führten, dass Rex total besitzergreifend wurde.
Dabei hatte Melissa viel aufzuholen. Als einzige Gedankenleserin allein aufgewachsen hatte sie die alten Tricks nie gelernt, die ihr die vorherige Generation hätte beibringen müssen.
Ein Schatz wartete in Madeleines Gehirn auf sie – Erinnerungen, Techniken und Geschwätz, im Laufe von Jahrtausenden aufgehäuft, seit der erste Gedankenleser gelernt hatte, wie man Wissen mit den Händen weiterreicht.
Dess fragte sich, wie diese Rechnung aufging. Wenn Generationen von Gedankenlesern all ihre Erinnerungen an die nächste Truppe weiterreichten, die sie dann zusammen mit den eigenen an die Nachfolger übergaben, die dann wieder die eigenen Erinnerungen dazutaten, und so weiter … würde der Haufen nicht irgendwann zu groß werden? Würde das ganze Wissen nicht irgendwann an Stabilität verlieren, wie Bausteine, die man höher und höher aufeinanderstapelte, bis das Ganze irgendwann zusammenbrach?
Vielleicht wurden die Erinnerungen verworrener, je weiter man in der Zeit zurückging, wurden zu einem verschwommenen Sammelsurium aus Gedanken und Gefühlen, wie bei den Piktogrammen, mit denen Meteorologen das Wetter darstellten. Dess stellt sich ein großes H vor, das über Madeleines Haus schwebte, um vor Hurenhochdruck zu warnen.
„Hör auf, mit der Tasse zu klappern, wenn du umrührst, Jonathan!“
Wo wir gerade dabei sind , dachte Dess, als sie mit Jonathan genervte Blicke austauschte. Er rührte weiter in seinem Tee und fügte noch einen ironischen kleinen Wirbel ein, den Madeleine nicht zu bemerken schien.
Wenigstens brauchten sie ihre Gedanken hier nicht zu bearbeiten. Madeleines Haus war in einer mordsmäßig großen temporalen Kontorsion gebaut, einer Falte in der blauen Zeit, in der es nahezu unmöglich war, jemandes Gedanken zu plündern, ohne ihn anzufassen. Als ob man neben
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