Der Riss
nicht, was an jenem Tag wirklich geschehen war.
Cassie Flinders war eigentlich kein Problem.
Wie üblich war es Beth.
Sie hatte Jonathans Gesicht bereits erkannt und erinnerte sich möglicherweise von Telefonaten, dass Jessica Freunde hatte, die Rex und Dess und Melissa hießen. Zu allem Überfluss wusste Beth, dass Jessica sich gern um Mitternacht hinausschlich – genau dann, wenn der expandierende Riss in Jenks am gefährlichsten war.
Und – wie Jessica aus langjähriger Erfahrung wusste – wenn einem jemand wegen einer winzigen Information gewaltig auf den Zeiger gehen konnte, dann war das Beth.
Jessica dachte über Rex’ neue Taktiken beim Gedankenlesen nach. Er hatte Melissa daran gehindert, in Angies Gehirn herumzupfuschen, obwohl Angie seit Jahren über die geheime Stunde Bescheid wusste. Bei Beth lagen die Dinge jedoch anders. Wenn an der Bixby Junior High Gerüchte aufkommen würden, dass um Mitternacht in der Nähe der Bahnlinie von Jenks komische Sachen passierten, dann würde Rex mit kleinen Schwestern vielleicht eine Ausnahme machen.
Jessica beschloss, ihm gegenüber nichts von dieser Sache zu erwähnen und in Melissas Nähe auch nicht zu stark daran zu denken. Ein kurzer Blick in Beths Hirn würde offenbaren, dass sie mehr über die Midnight wusste, als gut für sie war.
Viel mehr, nachdem sie sich jetzt mit Cassie Flinders angefreundet hatte.
Jessica aß weiter und versuchte, die Aromamischung aus lange geschmorten Tomaten, Spaghetti Nr. 18 und fast zu sehr eingekochten Zwiebeln zu genießen. Im Laufe des Essens – bei dem Beth Jessica etliche vielsagende Blicke zuwarf – hinterließen die Familienaromen jedoch allmählich einen bitteren Nachgeschmack in ihrem Mund.
„Mom?“, fragte Beth, als sich das Mahl dem Ende näherte.
„Ja?“
„Darf ich irgendwann mal bei Cassie übernachten?“
Jessica sah, wie sich ein Lächeln auf den Gesichtern ihrer Eltern ausbreitete. Die Schulparade hatte sich ausgezahlt, großartig. Beth hatte in der neuen Stadt endlich eine Freundin gefunden. Von jetzt an würde alles viel einfacher werden.
„Natürlich darfst du das“, sagte Mom.
Beth strahlte und richtete ihren Blick auf ihre große Schwester, um in aller Deutlichkeit zu zeigen, dass sie wusste, wo sie mehr Hinweise finden würde und mehr Ärger machen konnte – da draußen in Jenks.
Jessica versuchte, ein unschuldiges Gesicht aufzusetzen, als ob sie heute Abend nichts gestört hätte, spürte aber, wie ihr das Lachen verging.
Es war einfach zu deprimierend. Sogar Beths Spaghettiabend war von der blauen Zeit berührt worden.
gedankenleser
10.30 Uhr abends
20
„Gib mir noch eine Chance, Loverboy, bitte.“
Rex antwortete nicht und stieg, ohne zu zögern, weiter die Stufen zum Dachboden hinauf. Seine Miene hatte sich nicht verändert, als ob er ihr Flehen gar nicht gehört hätte. Sie hatte auch nicht erwartet, dass er sich mit ihr zusammensetzen würde, um darüber zu plaudern. Seit der Nacht in der Wüste hatte Rex für die anderen eine normale Fassade aufgebaut, aber bei Melissa ließ er häufiger seine nicht so menschliche Seite durchblicken.
Sogar hier, in Madeleines Haus, konnte Melissa die Darklingseite in ihm schmecken, trocken wie ein Mund voller Kreidestaub, der ihre Zunge austrocknete. Man könnte genauso gut mit dem Wüstensand reden, statt an diesen Teil seines Ichs zu appellieren.
Aber hier ging es um Rex, trotz allem. So leicht würde sie nicht aufgeben.
Melissa stürzte hinter ihm her, die Stufen hinauf, bis sie sein Fußgelenk von unten packen konnte. Sie krallte sich mit ihren Nägeln am Hosenbein seiner Jeans fest und brachte ihn mit aller Kraft zum Stehen.
„Jetzt warte doch, Rex!“
Er drehte sich um und sah sie ausdruckslos an. Seine Augen blitzen unheimlich. Seit Neustem schienen sie das Licht des dunklen Mondes irgendwie auch in der normalen Zeit einzufangen.
Seine Lippen entblößten seine Zähne, und einen entsetzlichen Moment lang glaubte Melissa, sie wäre zu weit gegangen.
Er würde sich ein für alle Mal in ein Monster verwandeln, sie gleich hier verschlingen und ihre Knochen auf Madeleines Treppe zum Dachboden zurücklassen.
Aber dann verzog sich sein Gesicht zu einem schiefen Grinsen.
„Was ist los, Cowgirl?“, fragte er. „Eifersüchtig?“
„Warte nur eine Minute, Rex. Bitte!“
Er sah auf seinen gefesselten Stiefel hinab und hob eine Augenbraue.
Melissa ließ sein Fußgelenk los, als ihr auffiel, dass sie fast auf den Stufen kniete,
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