Der Riss
indoktriniert worden bin? Was ist, wenn ich gar nicht der erste verrückte Gedankenleser in der Geschichte bin, Rex? Wenn ich der erste normale bin?“
„Normal … “, sagte er. So ganz hatte er noch nicht verstanden.
Melissa bedrängte ihn weiter. „Denn egal wie bescheuert ich sein mag, egal was ich mit deinem Dad angestellt habe, ich kann wenigstens erkennen, dass es nicht cool ist, wenn man über Jahrhunderte in den Hirnen von den Einwohnern einer ganzen Stadt herumpfuscht.“
Er nahm ihre Hand, und Melissas Gedanken, die in wirren Worten aus ihr herausgepurzelt waren, schienen sich bei seiner Berührung zu ordnen. Sie flossen in ihn hinein, zusammen mit dem einen, den sie nicht laut ausgesprochen hatte.
Das mit deinem Vater tut mir leid, Rex.
„Du hast mich vor ihm gerettet, so gut du konntest“, antwortete er.
Melissa wandte den Blick ab, mit aufgewühlten Gefühlen.
Scham über ihre Vergangenheit, Sorge, sie könnte Rex bereits an die Darklinge verloren haben, Angst, was Madeleine mit seinem Verstand anstellen mochte – all das quetschte sich in eine einzige Träne. Die rollte ihre Wange hinab wie ein Tropfen Säure.
Rex saß nachdenklich da, dann sagte er schließlich: „Ich glaube, du hast recht. Für Madeleine wird meine neue Sichtweise der Geschichte … eine Herausforderung sein.“
„Dann lass mich mit dir gehen, Rex. Mir ist es egal, dass du in letzter Zeit ein Scheißdarkling warst. Du brauchst meinen Schutz.“
Er lächelte wieder, und sie sah einen violetten Funken in der Tiefe seiner Augen. „Du hast keine Ahnung, was ich bin.“
Sie gab einen kurzen, gepressten Lacher von sich. „Mir egal, Rex. Selbst wenn du ein Monster bist, will ich dich nicht an sie verlieren. Und glaub mir, diese ganzen gruseligen kleinen Gedankenleser in ihrem Hirn würden alles tun, um dich kleinzukriegen.“
Unvermittelt beugte er sich vor und küsste sie – zum ersten Mal seit Mittwochnacht trafen sich ihre Lippen. Er schmeckte bitter und ein bisschen wie sehr dunkle Schokolade.
Wirklich erschrocken stellte sie aber fest, dass sie nirgendwo in ihm Furcht schmecken konnte.
„Wir werden sehen“, sagte er. „Komm schon, Cowgirl. Sie wartet auf uns.“
Madeleine saß in ihrer gewohnten Ecke auf dem Dachboden, umringt von Teeutensilien. „Ihr beiden zusammen, nicht wahr?“
„Vielleicht kann ich helfen“, sagte Melissa.
Die alte Gedankenleserin sah sie missgünstig an, schickte sie aber nicht weg. Wie Rex hatte auch sie keine Angst.
„Nun, dann nehmt Platz, ihr beiden. Der Tee wird kalt. Zu meiner Zeit ließen junge Leute ihre Angehörigen nicht warten.“
Je mehr ich über deine Zeit erfahre , dachte Melissa, desto erfreuter bin ich, dass die Grayfoots dahergekommen sind.
Rex und sie ließen sich in der Ecke nieder, zu dritt bildeten sie ein Dreieck um das Teeservice. Melissa hatte das noch nie zuvor getan – zwei Midnighter gleichzeitig an den Händen gehalten – sie wusste aber aus ihrem Erinnerungsfundus, dass Gedankenleserzirkel früher oft praktiziert wurden.
Kein Wunder, dass sie alle das Gleiche dachten. All diese Geister, die aufeinander abgestimmt waren und sich in ihrem Glauben gegenseitig bestärkten – hätte man denen noch ein paar Pompoms in die Hände gedrückt, dann wäre das genau wie bei den Eröffnungsfeiern an der Bixby Highschool gewesen, nur ohne jemanden, der sich in den Ecken rumdrückt, um heimlich zu rauchen.
Melissa nippte an ihrem Tee. Der war tatsächlich kalt geworden, was den bitteren Geschmack noch stärker als üblich hervortreten ließ.
„Was du letzte Woche getan hast, war sehr gefährlich, Rex“, tadelte Madeleine. „Ich habe dich von dieser Stelle aus genau beobachtet. Niemand hat etwas Derartiges bislang überlebt.“
„Wir hatten sonst niemanden, an den wir uns wenden konnten“, sagte er.
„Ich habe mich in den vergangenen sechzehn Jahren sehr angestrengt, um dich am Leben zu erhalten, Rex. Du hättest diese ganzen Bemühungen in wenigen Minuten zunichtemachen können.“
Melissa holte tief Luft. In ihren Übungssitzungen hatte Madeleine sie unermüdlich daran erinnert, warum sie und Dess erschaffen worden waren – um Rex zu helfen, dem einzigen natürlichen Midnighter in der jüngsten Geschichte von Bixby.
Die alte Gedankenleserin hatte unzählige Mütter in den Wehen vorsichtig manipuliert, um dafür zu sorgen, dass Babys genau um Mitternacht zur Welt kamen. Und all das, um für Rex ein Aufgebot zu schaffen, das er führen
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