Der Riss
klare Gedanken zu fassen. „Willst du damit sagen, es stimmt nicht, was Angie sagt? Dass die Grayfoots sie irgendwie zum Narren gehalten haben?“
„Nein.“ Melissa blickte über ihre Schulter die Treppe hinauf, um sicherzugehen, dass sich Madeleine außer Hörweite befand. „Seit Angie uns ihren kleinen Vortrag gehalten hat, habe ich die Erinnerungen nach solchen Dingen durchgeforstet – Zerstörung von Menschen, Veränderungen an Gehirnen aus Profitgier, Massenmanipulationen. Ich habe aber nichts gefunden.“ Sie trommelte mit den Fingern auf ihren Knien.
„Aber aus irgendeinem Grund glaube ich trotzdem, dass sie die Wahrheit sagt. Ergibt das irgendeinen Sinn?“
Rex nickte. „Vielleicht haben sie eine bereinigte Fassung weitergegeben.“
„Was sie weitergegeben haben, zeugt von einer unglaublichen Selbstgefälligkeit. Sie haben nie infrage gestellt, was sie taten. Ich glaube nicht, dass sie es infrage stellen konnten. “
„Wie meinst du das?“
Sie griff wieder nach seiner Hand und zeigte ihm eine unangenehme Erinnerung, die erst wenige Wochen alt war – den Moment, in dem sie Dess gegen ihren Willen berührt und ihr das Geheimnis von Madeleines Existenz entrissen hatte. Melissa zwang sich, bei Dess zu verweilen, der die alte Gedankenleserin den Verstand blockiert und mühelos verbogen hatte, um ihr Wissen zu verbergen. Und wie Melissa es aufgerissen hatte.
Als sie spürte, wie Rex ein eisiger Schauder überlief, ließ sie seine Hand los.
„Warum hast du mir das gezeigt?“, fragte er.
„Weil du dir merken musst, wozu wir fähig sind“, sagte sie.
„Gedankenlesen beeinflusst nicht nur gewöhnliche Leute.
Man kann es auch gegen andere Midnighter einsetzen.“
„Ich weiß.“ Seine Augen verengten sich. „Aber was hat das mit der Geschichte von Bixby zu tun?“
Sie sah zu ihm auf. „Bevor wir fünf Waisen aufgetaucht sind, wuchsen Midnighter in einer Umgebung von Gedankenlesern auf, die bei jedem Händedruck Gedanken austauschten. Wenn es aber nicht nur Neuigkeiten und Erinnerungen waren, die sie weitergaben? Wenn sie Glaubensrichtungen weitergegeben haben? Und wenn sie irgendwann gemeinsam beschlossen haben, dass Gedankenleser nie etwas Böses getan haben?“
„Zu glauben beschlossen haben?“
Melissa rückte näher, redete jetzt leiser, weil sie sich die alte Frau vorstellte, wie sie oben gleich hinter der nächsten Ecke lauschte. Melissa hatte sich Madeleines Haus für dieses Gespräch mit Rex aus einem einfachen Grund ausgesucht: Innerhalb dieser temporalen Kontorsion konnten ihre Gedanken nicht abgehört werden.
„Im Laufe der Jahrhunderte“, hob sie an, „fingen Midnighter an zu glauben, dass alles, was sie taten, in Ordnung wäre, genau wie Leute, die Sklaven hielten, sich für ,gute Herren‘
hielten. Im Unterschied zur Sklaverei hat aber von außen nie jemand infrage gestellt, was die Midnighter in Bixby vorhatten. Alles war geheim, und wann immer Zweifel auftauchten, waren Gedankenleser zugegen, um sie zu zerschlagen. Das war wie bei einer Cheerleadertruppe, die durch die Highschool zieht, wobei alle das Gleiche denken, das Gleiche reden und sich für den Mittelpunkt der Erde halten … und zwar über Jahrtausende. “
Sie sah ihm in die Augen, in der Hoffung, dass er das begreifen würde.
„Bis wir gekommen sind“, sagte Rex.
„Genau. Wir unterscheiden uns mehr von unseren Vorgängern, als wir dachten, Rex. Vielleicht haben sie all die bösen Taten begangen, aber sie wussten nicht, dass sie Böses taten.
Sie konnten es nicht wissen.“
„Madeleine hast du nach all dem noch nicht gefragt?“
Melissa schüttelte den Kopf. „Unmöglich. Ich habe mich noch nicht von ihr berühren lassen, seit Angie ihre kleine Ansprache gehalten hat.“
Rex lächelte leise. „Bist du jetzt also ein Fan von Angie geworden?“
„Nicht ganz, aber ihr gelingt genau das, was die meisten Schaumschläger auszeichnet: Sie sorgt dafür, dass ich mir viel besser vorkomme.“
„Weil du noch nie jemanden gekidnappt hast?“
„Oh nein, viel besser als das.“ Sie legte ihre Hände aneinander und hoffte, dass diese Erkenntnis immer noch einen Sinn ergab, wenn sie sie laut ausgesprochen hatte. „Madeleine sagt immer, dass aus mir nie ein richtiger Gedankenleser wird – ich hätte zu spät angefangen. Diese Erinnerungen sind für mich nur Fragmente, aber für sie sind sie wie wirkliche Leute.“ Melissa schüttelte den Kopf. „Wenn das aber eine gute Sache ist, dass ich nie
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