Der Rote Mond Von Kaikoura
Australien gewesen war. Doch es hatte ein Unwetter gegeben, das sie weit von ihrem Kurs abgebracht hatte. Schließlich waren sie gezwungen gewesen, in Neuseeland vor Anker zu gehen, irgendwo an der rauen Küste, wo es noch keine Zivilisation gab. Und dann war es zu diesem Vorfall gekommen …
Schritte verjagten die Bilder der Erinnerung. Wenig später erschien das tätowierte Gesicht eines Mannes über ihm, was ihn bis ins Mark erschrecken ließ.
Der Fremde sagte zunächst etwas in einer seltsamen Sprache, sah aber offenbar schnell ein, dass ihn der junge Bursche nicht verstand. »Du besser?«, fragte er nun auf Englisch, hockte sich neben ihn und berührte mit seinen Fingerspitzen die Stirn des Fremden. Der Junge zuckte bei der kühlen Berührung zusammen, als würde ihn ein Nadelstich treffen.
Hastig nickte er. »Ja, besser.« Seine Stimme kratzte im Hals wie damals, als er mit Scharlach tagelang in seinem Zimmer gelegen hatte, das abgedunkelt gewesen war, damit er nicht erblindete. Zu Hause, ging es ihm durch den Sinn. Das war so entsetzlich weit entfernt. Warum war er je auf die Idee gekommen, sein Elternhaus zu verlassen? Wahrscheinlich hatte sein Vater ihn bereits enterbt. Nicht, dass er sich etwas aus dem Geld machte. Obwohl sein Vater ihm gegenüber stets reserviert und kühl gewesen war, traf es ihn viel mehr, dass er sich von ihm losgesagt haben könnte. Dass es niemanden geben würde, der um ihn trauerte, wenn er auf diesem Flecken Erde starb.
»Du viele Geister.« Der Mann suchte nach den richtigen Worten, während er die Hand wieder zurückzog. »Dein Blut Fieber. Ich gesungen karakia , du werden besser.«
Karakia? Damit konnte der junge Mann nichts anfangen. Und er wusste auch nicht, was das Singen mit den Schmerzen und der Schwäche in seinen Knochen zu tun haben sollte. Doch eines wurde ihm in diesem Augenblick jäh bewusst: dass er so schnell nicht wieder von diesem Ort wegkommen würde. Seine Kameraden waren sicher schon fort, hielten ihn vielleicht für tot. Er war verloren in einem Land, das er nicht kannte, zwischen Menschen, deren Sprache er nicht verstand und die selbst nur wenige Fetzen seiner eigenen Sprache kannten. Oder zumindest jener Sprache, die er sich angeeignet hatte, um über alle Weltmeere reisen zu können.
»Wo bin ich hier?«, fragte der junge Mann.
»Du in marae. In meiner Hütte. Ich dich machen gesund, damit du gehen kannst in eigene Land.«
Mein Land, zog es unter seiner sich wieder erwärmenden Stirn entlang. Würde es ihn noch wollen? Oder hatte es ihn genauso verlassen, wie seine Kameraden es schon getan hatten?
Auf einmal fiel ihm wieder ein, was mit seinen Kameraden geschehen war. Welches Vergehens sie ihn bezichtigt hatten, fälschlicherweise natürlich. Der wahre Schuldige hatte einen Sündenbock gebraucht, damit ihm nicht selbst die Haut abgezogen würde. Unglücklicherweise hatte er genug Macht gehabt, um ihn verurteilen und bestrafen zu lassen. Ihn, das kleinste Rädchen im Getriebe, auf das man verzichten konnte.
»Jetzt du musst schlafen«, sagte der Maori, während er leicht seine Hand auf die Stirn des jungen Mannes sinken ließ. »Ich wache über dich. Ich singe, damit böse Geister nicht wiederkommen.«
Und damit hob er wieder zu jenem hypnotischen Gesang an, an den sich der junge Mann aus seinen Fieberträumen erinnern konnte. Auch jetzt hatte er dem nichts entgegenzusetzen; als trügen die Klänge tatsächlich eine Art Magie in sich, geleiteten sie ihn sanft, aber unwiderstehlich fort ins Reich der Träume.
1
Frühjahr 1888
Zum ersten Mal seit Langem träumte Lillian Ehrenfels in dieser Nacht wieder von ihren Eltern. Arm in Arm standen ihr Vater und ihre Mutter auf dem Bahnsteig, in ihrer besten Sonntagskleidung und bereit, gleich den Zug in Richtung Hamburg zu besteigen. Rauch zog unter dem gewölbten Bahnhofsdach entlang, während die Lokomotive einen schrillen Pfiff ausstieß, um die Passagiere zum Einsteigen aufzufordern.
Lillians Eltern lächelten ihr zu, ihre Mutter beugte sich vor und gab ihr einen Kuss. »Sei brav, meine Lilly, wir sind bald wieder bei dir.« Dann winkten sie ihr ein letztes Mal zu. Während ihr Großvater sie auf seinen Arm hob, verspürte sie eine tiefe Trauer darüber, dass die beiden wichtigsten Menschen in ihrem jungen Leben sie für so lange Zeit allein lassen würden.
Dass sie sie für immer verließen, hatte sie damals noch nicht ahnen können. Doch im Traum wusste sie es bereits. Verzweifelt streckte sie ihre
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