Der rote Norden - Roman
Fensterlicht beleuchtet eine Hälfte ihres Gesichtes und ihr Haar glänzt.
All das sehe ich jetzt. Ich gehe auf das Bett zu, setze mich, aber meine Füsse erreichen den Boden. Wir haben keine Katze bekommen, denn Leonie ist drei Wochen nach den Ferien beim Grossvater von einem Lastwagen überfahren worden, und ich habe immer gedacht, es wäre besser gewesen, der Lastwagen hätte mich überfahren, weil ich eine Zahnlücke hatte. Leonie ist in der Ballettaufführung des Pfalzdorfer Kinderballetts ganz wichtig gewesen, sie hat die Zuckerprinzessin getanzt; ich bin eines der schwarzen Pferdchen in der hinteren Reihe gewesen. Und es sind nicht die drei Jahre, die sie älter ist als ich, die diesen Unterschied zwischen uns ausmachen, denn wie ich neun bin, bin ich immer noch das schwarze Pferdchen in der hinteren Reihe in der Aufführung des Pfalzdorfer Kinderballetts. Es wäre wirklich besser und gerechter gewesen, der Lastwagen hätte mich überfahren; aber Mama hat ja nicht auswählen können. Das Bild, wie Leonie als Zuckerprinzessin im rosaroten Tutu auf den Zehen steht und lächelt und nach oben schaut, hat für immer bei meinen Eltern auf dem Klavier gestanden.
Ich stehe auf. Das Zimmer riecht anders als damals, aber es sieht gleich aus. Nach fünfzig Jahren sieht es immer noch wie damals aus. Und die Sonne scheint auch gleich durch das Fenster. Leonie ist ein neunjähriges Kind geblieben, und ich bin jetzt dick und alt. Ich gehe in die Diele zurück. Ein Bad ist da und noch zwei andere Zimmer. In beiden scheint nie die Sonne. Das eine ist das Schlafzimmer der Grosseltern; als die Grossmutter noch lebte, haben sie und Grossvater hier oben geschlafen – zwei Betten nebeneinander, dunkles Eichenholz, mit weissen Laken überzogen, verstaubt. Neben jedem Bett ein Nachttisch aus demselben Holz. Ein grosser dunkler Schrank. Das andere Zimmer ist das Zimmer der Tante gewesen. Immer hat sie neben dem Elternzimmer geschlafen. Dunkel und staubig ist auch dieses Zimmer; ein Bett, ein Schrank, ein kleiner Schreibtisch.
Ich werde hier schlafen, in diesem Tantenzimmer, denke ich. Ich werde natürlich zum Hotel mit dem Park und dem Teich zurückfahren und meine Rechnung bezahlen, aber danach komme ich hierher zurück. Mir scheint, die Tante braucht mich. Es ist gut, dass Martin diesen Brief geschrieben hat. Ich höre, wie unten das Telefon klingelt. Ich trete in den Flur, schliesse die Türe des Tantenzimmers hinter mir und lausche. Die Tante hat den Hörer abgenommen. Der Apparat steht offenbar gerade neben dem Bett, in dem sie geschlafen hat. Dann höre ich, wie sie durch das Zimmer geht und die Türe zum Flur öffnet. Sie ruft: »Sophie? Ist hier eine Sophie?«
Ich spüre: Kaspar hat mich gefunden. Ungeheure Angst steigt in mir hoch. »Jetzt hat er mich«, denke ich. Ich bewege mich nicht. Die Tante ruft nochmals »Sophie?« Sie geht ins Zimmer zurück. Sie nimmt den Hörer auf und sagt: »Es ist keine Sophie da, Martin!«
Martin? Martin? Ich eile, so schnell ich kann, die laute Holztreppe hinunter. »Ich bin da!«, rufe ich.
»Martin?«, sagt die Tante freundlich. »Vielleicht ist sie doch da.«
Ich reisse ihr den Hörer, den sie mir entgegenstreckt, aus der Hand.
»Martin?«
»Sophie …«
Ich sage nichts.
»Sophie … nimm ein Flugzeug, nach Imalo im Roten Norden. Ich warte dort auf dich.«
Ich verstehe nicht, was er meint. Darum wiederhole ich »Martin?« Es ist wirklich seine Stimme.
»Imalo im Roten Norden«, wiederholt er. »Bitte, Sophie.«
»Aber … ich bin hier, bei Tante Sophie. Sie braucht mich.«
»Ich brauche dich auch. Bitte Sophie.« Seine Stimme tönt drängend. »In drei Tagen. Bis dann hast du jemanden gefunden, der Tante Sophie beisteht. Du schaffst das.«
Ich sage nichts.
Er fragt: »Sophie?«
Ich sage immer noch nichts, was soll ich sagen. Ich höre seine Stimme, das genügt.
»Bitte, Sophie. Ich muss da etwas erledigen. Ich brauche dich wirklich. In drei Tagen. Ich warte am Flughafen von Imalo auf dich.«
Ich schweige und höre.
»Ich warte auf dich, Sophie. Es gibt nur einen einzigen Flug, der in Imalo am Abend ankommt. Ich stehe am Flughafen und warte.«
»Ja«, sage ich.
»Ja?«, fragt er. Seine Stimme klingt erleichtert. »Denk daran, ich warte auf dich.«
Ich sage nochmals: »Ja«.
»Bis bald«, sagt Martin. Er hängt auf.
»Er hat aufgehängt«, sage ich zu Tante Sophie.
Sie sieht mich an und nickt.
7.
An jenem Abend bin ich zum Hotel zurückgefahren. Ich habe der
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