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Der rote Norden - Roman

Der rote Norden - Roman

Titel: Der rote Norden - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franzisika Haeny
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er lebt. Der Gedanke, dass Martin lebt, von dem die ganze Welt (sofern die Welt ihn gekannt hat) weiss, dass er tot ist, beunruhigt und ergreift mich.
    Die Kirche ist dämmrig. Die Tante liegt da im glänzenden Holzsarg. Die Orgel. Der Pfarrer … Er redet von der Tante, die da liegt. Er sagt, dass sie, nach allem, was er gehört habe – das muss Martin ihm erzählt haben – hilfsbereit und immer für andere da gewesen sei. Ich schaue auf das glänzende Fussende des Sargs. Die Tante hat tatsächlich ihr Leben beim Grossvater zugebracht. Als der Grossvater alterte und verfiel, hat sie ihn gepflegt. Vorher hat sie für ihn gekocht, aufgeräumt und geputzt. Und dann hat sie ohne den Grossvater im Haus des Grossvaters weitergelebt. Seinen Namen hat sie nicht vom Schild an der Haustür, vom Schild auf dem Briefkasten entfernt.
    Ich weiss nicht, wie die Tante gestorben ist. Der Pfarrer weiss es auch nicht. Er spricht von der Schwester in Christo, die voller Hilfsbereitschaft und Freude gewesen sei und jetzt zu ihrem Schöpfer gerufen worden sei. Die Trauergemeinde, sagt er, werde die Tante in der ihr eigenen Art im Gedächtnis behalten. Es dünkt mich seltsam, hier zu sein, in der falschen Kleidung, an diesem dunklen Ort, und vorne redet der Mann im schwarzen Talar einwandfreie Sätze, die unsinnig und eigentlich albern sind. Ich habe plötzlich den Eindruck, selber im Sarg zu liegen. Der Pfarrer redet genau dasselbe über mich. Ich bin hilfsbereit und freudvoll gewesen. Und der Schöpfer hat mich gerufen. Ich liege im Sarg. Und die Nachbarn behalten mich in der mir eigenen Art im Gedächtnis. Die Orgel tönt erneut. Was ist meine eigene Art? Alle Menschen in der Kirche stehen auf. Ich stehe auch auf. Der Pfarrer betet für die Verstorbene. Wir singen zusammen ein Lied, vorne ist auf einer Tafel angezeigt, welche Nummer das Lied im Gesangbuch hat.
    Der Sarg glänzt. Offenbar ist das Holz lackiert. Dann setzen sich alle wieder. Der dunkle Raum hallt etwas.
    Der Pfarrer hat ein müdes, auseinanderfallendes Gesicht und einen Seitenscheitel. Er sagt, er wolle jetzt noch im Namen der Familie und der Angehörigen danken. Er sagt, die Trauerfamilie danke allen Menschen, die sich um Rosa Immer bemüht hätten, die ihr geholfen hätten, ihr in den letzten Monaten beigestanden seien. Nach einigen Sekunden begreife ich erst, was das heisst. Das heisst, dass das gar nicht Tante Sophies Beerdigung ist. Es ist die Beerdigung einer Frau, die Rosa Immer heisst. Und ich denke: o Gott, was mache ich hier? Wir stehen alle wieder auf. Wir sprechen im Chor das Vaterunser. Wir singen noch ein Lied, dessen Nummer vorne angezeigt ist. Der Mann im schwarzen Talar spendet uns seinen Segen. Das kommt mir bizarr vor. Wie könnte er mir die Kraft Gottes geben? Dann setzt die Orgel ein. Sie dröhnt laut, zu laut für die kleine Kirche. Die Menschen vor mir gehen nun alle zum offenen Ausgang. Ich hoffe, dass ich entwischen kann. Doch der Pfarrer steht an der Türe und gibt jedem, der hinauswill, die Hand. Wie ich an der Reihe bin, schaut er mich scharf an und fragt dann: »Sophie?«
    Verdattert nicke ich. Er sagt: »Ich muss Ihnen etwas geben.« Er greift mit der linken Hand in den Talar – offenbar hat der Talar eine Tasche – und fördert einen Briefumschlag zutage. »Das ist für Sie«, sagt er.
    Der Brief ist in meiner Hand, der Pfarrer lächelt mir zu und streckt dann seine rechte Hand bereits der Frau, die hinter mir steht, entgegen. Verblüfft mache ich einige Schritte, stehe kurz still und beschliesse, zum Auto zu gehen und den Brief erst dort zu öffnen.
    Ich sitze im Ledersitz des Mercedes. Auf dem Umschlag steht
Sophie
, nur
Sophie
. Ich kenne die Schrift, es ist Martins Schrift. Mein Herz klopft. Der Umschlag ist zugeklebt. Ich habe Mühe, ihn zu öffnen. Ich falte das handschriftlich beschriebene Blatt auseinander.
    »Liebe Sophie«, steht da in Martins Schrift, »ich bitte Dich ganz dringend, heute noch Tante Sophie zu besuchen. Sie wohnt am selben Ort wie früher. Liebe Grüsse und vielen Dank, Dein Martin.«
    Der Brief liegt auf meinem Schoss. Meine Hände zittern. Der Brief kommt von Martin. Kein Zweifel. Das bedeutet … das bedeutet, dass Martin lebt. Jetzt halte ich mich am Lenkrad fest. Ich lächle meinen Händen und dem Lenkrad zu. Mein Herz klopft immer noch. Es gibt Wunder, denke ich. Das erste Wunder ist, dass ich mich aus dem Zimmer mit dem rechteckigen Esstisch und dem Ledersofa gelöst habe. Das zweite Wunder ist, dass

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