Der rote Prophet
Ta-Kumsaw.
Wenige Sekunden später trat der weiße Mann auf die Lichtung. Dort, wo er noch nicht kahl war, war sein Haar weiß. Er trug einen Hut. Über seine Schulter hatte er einen schlaff aussehenden Beutel geschlungen; er trug keinerlei Waffen. Alvin wußte sofort, was sich in dem Beutel befand. Ein paar Kleider zum Wechseln, etwas Nahrung und ein Buch. Ein Drittel des Buchs bestand aus einzelnen Sätzen, von Menschen geschrieben, die damit das Wichtigste festgehalten hatten, das sie mit eigenen Augen gesehen hatten. Zwei Drittel des Buchs jedoch waren mit einem Lederriemen versiegelt. Darin schrieb Geschichtentauscher seine eigenen Geschichten, jene, die er glaubte und für wichtig hielt.
Denn der Weiße war Geschichtentauscher, den Alvin nie in seinem Leben wiederzusehen geglaubt hatte. Und als er diesen alten Freund plötzlich erblickte, wußte Alvin auch, warum gleich zwei Fische Ta-Kumsaws Ruf gefolgt waren. »Geschichtentauscher«, sagte Alvin. »Ich hoffe, daß Ihr hungrig seid, denn ich habe hier einen Fisch, den ich für Euch gebraten habe.«
Geschichtentauscher lächelte. »Ich freue mich sehr, dich wiederzusehen, Alvin, und ich bin auch sehr dankbar für diesen Fisch.«
Alvin reichte ihm den Spieß. Geschichtentauscher setzte sich ins Gras, Alvin und Ta-Kumsaw gegenüber auf der anderen Seite des Feuers. »Recht vielen Dank auch, Alvin«, sagte Geschichtentauscher. Er holte sein Messer hervor und begann damit, Scheiben von dem Fisch abzuschälen. Sie zischten, als sie seine Lippen berührten, doch er schmatzte nur und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Ta-Kumsaw verzehrte ebenfalls seinen Fisch, und Alvin beobachtete beide. Ta-Kumsaw wandte den Blick keine Minute von Geschichtentauscher ab.
»Das ist Geschichtentauscher«, erklärte Alvin. »Der Mann, der mir das Heilen beigebracht hat.«
»Ich habe es dir gar nicht beigebracht«, widersprach Geschichtentauscher. »Ich habe dir nur eine Vorstellung davon gegeben, wie du es dir selbst beibringen könntest. Und ich habe dich dazu überredet, es zu versuchen.« Den nächsten Satz richtete Geschichtentauscher an Ta-Kumsaw. »Er war doch fest dazu entschlossen, lieber zu sterben, als seine Fähigkeit dazu zu benutzen, sich selbst zu heilen, könnt Ihr das glauben?«
»Und das hier ist Ta-Kumsaw«, stellte Alvin vor.
»Oh, das wußte ich sofort, als ich Euch sah. Wißt Ihr überhaupt, welch eine Legende Ihr unter den Weißen seid? Ihr seid wie Saladin während des Kreuzzugs – sie bewundern Euch mehr als ihre eigenen Führer, obwohl sie wissen, daß Ihr geschworen habt, so lange zu kämpfen, bis Ihr den letzten weißen Mann aus Amerika vertrieben habt.«
Ta-Kumsaw antwortete nicht.
»Ich bin vielleicht zwei Dutzend Kindern begegnet, die auf Euren Namen getauft wurden, die meisten von ihnen waren Jungen, und es sind alles Weiße. Und die Geschichten ... wie Ihr weiße Gefangene vor dem Feuertod gerettet habt, wie Ihr den Leuten, die Ihr aus ihrem Heim vertrieben habt, Nahrung brachtet, damit sie nicht verhungerten. Manche dieser Geschichten glaube ich sogar.«
Ta-Kumsaw war mit seinem Fisch fertig und legte den Spieß ins Feuer.
»Ich habe auch eine Geschichte gehört, als ich hierher kam, wie Ihr zwei Weiße aus Vigor Church gefangengenommen und ihren Eltern Ihre blutbefleckten Kleider geschickt habt. Wie Ihr sie zu Tode gemartert habt, um zu zeigen, daß Ihr jeden Weißen vernichten wollt – Mann, Frau, Kind. Wie ihr gesagt habt, daß Ihr nun jeden weißen Mann aus Amerika vertreiben wollt.«
Zum ersten Mal seit Geschichtentauschers Ankunft ergriff Ta-Kumsaw das Wort. »Und habt Ihr diese Geschichte auch geglaubt?«
»Nein, das habe ich nicht«, erwiderte Geschichtentauscher. »Aber das lag daran, daß ich die Wahrheit bereits kannte. Wißt Ihr, ich habe nämlich eine Nachricht von einem Mädchen erhalten, die ich kannte – inzwischen ist sie eine junge Dame geworden.« Er holte einen zusammengefalteten Brief aus seiner Rocktasche, drei Blätter Papier, die mit Schrift bedeckt waren. Er reichte sie Ta-Kumsaw.
Ohne ihn anzuschauen, gab Ta-Kumsaw den Brief an Alvin weiter. »Lies ihn mir vor«, sagte er.
»Aber Ihr könnt doch Englisch lesen«, widersprach Alvin.
»Nicht hier«, erklärte Ta-Kumsaw.
Alvin sah den Brief an, alle drei Seiten, und mußte zu seiner Überraschung feststellen, daß er ihn auch nicht lesen konnte. Die Buchstaben sahen alle vertraut aus. Wenn er sie genauer ansah, konnte er sie sogar
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