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Der rote Prophet

Der rote Prophet

Titel: Der rote Prophet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orson Scott Card
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meinem Bruder lange genug zuhörst, wirst du glauben, daß sie es tut. Nein, verteidige ihn nicht. Er geht seinen Weg, und ich gehe den meinen. Ich glaube, daß auf seinem Weg mehr Menschen ums Leben kommen werden, Rote wie Weiße, als auf meinem.«
    In der Nacht träumte Alvin. Er sah sich, wie er um den ganzen Achtgesichtigen Hügel schritt, bis er eine Stelle gefunden hatte, an der ein Pfad den steilen Hang hinaufführte. Dann kletterte er hinauf und erreichte den Gipfel. Die silberblättrigen Bäume schwankten im sanften Wind und blendeten ihn, als das Licht der Sonne sich in ihnen spiegelte. Er schritt auf einen der Bäume zu und erblickte darin das Nest eines Kardinalvogels. Jeder Baum besaß ein einziges Kardinalvogelnest.
    Bis auf einen. Der war anders als die anderen. Er war älter, knorriger, mit Ästen, die sich nicht nach oben, sondern in die Breite ausdehnten wie bei einem Obstbaum. Und die Blätter waren aus Gold, nicht aus Silber, so daß sie nicht so hell leuchteten; aber sie waren weich und schimmerten. Im Baum erblickte er runde weiße Früchte und wußte, daß sie reif waren. Doch als er danach griff, um eine zu essen, hörte er Gelächter und Gejohle. Er blickte sich um und sah alle Menschen, die er je in seinem Leben kennengelernt hatte, und sie lachten ihn aus. Bis auf einen – Geschichtentauscher. Er stand da und sagte: »Iß.« Und Alvin pflückte eine Frucht vom Baum, dann führte er sie an die Lippen und biß hinein. Sie war saftig und fest, und der Geschmack war süß, bitter, salzig und sauer zugleich, so kräftig, daß ihn ein Prickeln durchschoß – aber gut, ein Geschmack, den er für immer behalten wollte.
    Gerade wollte er einen zweiten Biß nehmen, als er sah, daß die Frucht aus seiner Hand verschwunden war und nun am Baum keine einzige Frucht mehr hing. »Im Augenblick brauchst du nur einen Bissen«, sagte Geschichtentauscher. »Merke dir, wie sie schmeckt.«
    »Das werde ich nie vergessen«, antwortete Alvin.
    Die anderen lachten noch immer, lauter denn je, doch Alvin beachtete sie nicht. Er hatte von der Frucht gekostet, und alles, was er jetzt noch wollte, war, seine Familie zum selben Baum zu führen und sie davon essen zu lassen; alle, die er je kennengelernt hatte, hierherzuführen, ja selbst Fremde, um sie davon kosten zu lassen. Wenn sie davon nur kosteten, dachte Alvin, würden sie wissen.
    »Was würden sie wissen?« fragte Geschichtentauscher.
    Alvin fiel es nicht ein. »Einfach wissen«, sagte er. »Alles wissen. Alles, was gut ist.«
    »Das ist richtig«, meinte Geschichtentauscher. »Nach dem ersten Bissen weiß man.«
    »Und was ist mit dem zweiten?«
    »Nach dem zweiten Bissen lebt man ewig«, antwortete Geschichtentauscher. »Und das ist etwas, was du lieber gar nicht erst ins Auge fassen solltest, mein Junge. Bilde dir niemals ein, du könntest ewig leben.«
    Am Morgen erwachte Alvin mit dem Geschmack der Frucht im Mund. Er mußte sich dazu zwingen, daran zu glauben, daß es nur ein Traum gewesen war. Ta-Kumsaw war bereits aufgestanden. Er schürte ein kleines Feuer und hatte zwei Fische aus dem Licking River herbeigerufen. Nun staken Holzspieße in ihren Mäulern. Einen Fisch reichte er Alvin.
    Doch Alvin wollte nicht essen. Denn dann würde es den Geschmack der Frucht aus seinem Mund vertreiben. Dann würde er anfangen zu vergessen, wo er sich doch erinnern wollte. Gewiß, er wußte, daß er irgendwann wieder etwas essen mußte – man konnte ziemlich dünn werden, wenn man die ganze Zeit das Essen verweigerte. Aber hier und heute wollte er nichts essen.
    Doch hielt er den Spieß fest und sah zu, wie die Forelle brutzelte. Ta-Kumsaw sprach und erzählte ihm davon, wie man Fische und andere Tiere herbeirief, wenn man Nahrung brauchte. Man bat sie zu kommen. Wenn das Land wollte, daß man aß, kamen sie; vielleicht kam aber auch ein anderes Tier, das war nicht wichtig, man aß einfach nur, was das Land einem gab. Alvin dachte über den Fisch nach, den er gerade briet. Wußte das Land denn nicht, daß er heute morgen nichts essen würde? Oder hatte es ihm diesen Fisch geschickt, um ihm zu sagen, daß er doch etwas essen müsse?
    Es war weder das eine noch das andere. Denn kurz bevor die Fische fertig waren, hörten sie ein Krachen und Stampfen, das ihnen verriet, daß sich ein Weißer näherte.
    Ta-Kumsaw saß völlig still da, zückte aber nicht einmal sein Messer. »Wenn das Land einen weißen Mann hierher führt, dann ist er nicht mein Feind«, sagte

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