Der rote Prophet
Die Stadt, die aus Wasser bestand, das so fest und klar war wie Glas, Wasser, das niemals schmelzen würde, zu kristallenen Türmen geformt, so hoch, daß sie sieben Meilen lange Schatten über das Land hätten werfen müssen. Doch weil sie so rein und klar waren, warfen sie überhaupt keine Schatten, drang das Sonnenlicht ungehindert durch jeden Zoll und jede Meile von ihnen. Wo immer ein Mann oder eine Frau stehen mochten, konnten sie tief in den Kristall hineinschauen und alle Visionen erkennen, die Lolla-Wossiky nun schaute. Vollkommenes Verstehen, das war es, was sie besaßen, mit Augen aus reinem Sonnenlicht zu schauen und mit der Stimme des Blitzes auszusprechen.
Lolla-Wossiky, der von nun an Tenskwa-Tawa heißen sollte, wußte nicht, ob er die Kristallstadt erbauen, darin leben oder sie vor seinem Tod zu sehen bekommen würde. Es genügte, die ersten Dinge zu tun, die er im festen Wasser des Wobbish River schaute. Er schaute und schaute, bis sein Geist nichts mehr erkennen konnte. Dann kroch er ans gegenüberliegende Ufer, hinauf ans Land und ging so lange weiter, bis er zu der Weide gelangte, die er in seiner Vision geschaut hatte.
Hier würde er die Roten zusammenrufen, würde sie lehren, was er in seiner Vision geschaut hatte. Und er würde ihnen helfen, nicht die Stärksten zu werden, aber stark; nicht die Größten, aber groß; nicht die Freiesten, aber frei.
Ein gewisses Faß im Wipfel eines gewissen Baumes. Den ganzen Sommer lang war es verborgen geblieben, doch dann hatte der Regen es entdeckt und die Hitze des Hochsommers und die Insekten und die Zähne der salzhungrigen Eichhörnchen. Schließlich barst es, nur wenig, aber genug; die Flüssigkeit troff hervor, Tropfen um Tropfen; binnen weniger Stunden war das Faß leer.
Niemand vermißte es jemals. Niemand trauerte, als es vom Eis des Winters zerbrach, als die Äste den Baum hinab in den Schnee stürzten.
5. Ein Zeichen
Als sich die Nachricht von einem einäugigen roten Mann herumsprach, den man den Propheten nannte, lachte Gouverneur Bill Harrison laut auf und sagte: »Aber das ist ja niemand anders als mein alter Freund Lolla-Wossiky! Wenn das Branntweinfaß, das er mir gestohlen hat, erst einmal leer ist, wird er schon wieder damit aufhören, Visionen zu bekommen.«
Doch schon bald merkte Gouverneur Harrison, wie wichtig die Worte des Propheten genommen wurden und mit wieviel Ehrfurcht die Roten seinen Namen nannten, so ehrfürchtig wie wahre Christen den Namen Jesu aussprachen. Beunruhigt rief er alle Roten um Carthage City herum zusammen – es war kurz vor einem Whiskytag, so daß er sich über Mangel an Publikum keine Sorgen zu machen brauchte –, und hielt ihnen eine Rede. Und in dieser Rede sagte er vor allem eins: »Wenn der alte Lolla-Wossiky wirklich ein Prophet ist, dann sollte er ein Wunder für uns vollbringen, um uns zu zeigen, daß mehr hinter ihm steckt als nur Gerede. Ihr solltet ihn dazu bringen, eine Hand oder einen Fuß abzuschneiden und wieder anheilen zu lassen – das würde uns doch beweisen, daß er ein Prophet ist, nicht wahr? Oder noch besser, soll er doch ein Auge ausreißen und es wieder heilen. Was sagt ihr da? Ihr meint, daß ihm bereits ein Auge fehlt? Nun, dann ist er doch wohl reif für ein Wunder, meint ihr nicht? Ich behaupte, solange er nur ein Auge hat, kann er auch kein Prophet sein!«
Die Kunde davon erreichte den Propheten, als er gerade auf einer Weide am Ufer des Tippy-Canoe lehrte, keine Meile von der Stelle entfernt, wo dieser in den Wobbish strömte. Es waren einige Whisky-Rote, die von dieser Herausforderung erzählten, und sie zierten sich nicht, den Propheten zu verhöhnen und zu sagen: »Wir sind gekommen, um zu sehen, wie du dein Auge wieder heil machst.«
Der Prophet sah sie mit seinem gesunden Auge an und sagte: »Mit diesem Auge sehe ich zwei rote Männer, die schwach und krank sind, Sklaven des Branntweins, die Sorte Männer, die mich sogar mit den Worten des Mannes verhöhnen würden, der meinen Vater getötet hat.« Dann schloß er sein gesundes Auge und sagte: »Mit diesem Auge sehe ich zwei Kinder des Landes, stark und schön, die ihre Frauen und Kinder lieben und allen Wesen Gutes tun.« Dann öffnete er das Auge wieder und sagte: »Welches Auge ist nun krank und welches Auge schaut die Wahrheit?« Und sie sagten zu ihm: »Tenskwa-Tawa, du bist ein wahrer Prophet, und deine beiden Augen sind heil.«
»Geht und sagt dem weißen Mörder Harrison, daß ich das Zeichen gegeben
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