Der Rote Wolf
aus grauem Wasser, Holzhäusern an einem Hafen, einem Neonschild und einem großen schwarzen Wellblechdach.
Erneut schlummerte er halb ein, schüttelte sich, um einen klaren Kopf zu bekommen, bemerkte einmal mehr den Geruch, der aus seinem Inneren sickerte.
Dann stand er auf, öffnete den Seesack und ging zum Schreibtisch, wo er, beginnend mit den schmerzstillenden Mitteln, seine Medikamente aufreihte.
Anschließend legte er sich aufs Bett, während die Übelkeit allmählich abklang.
Nun war er also endlich angekommen.
La mort est ici.
Der Tod ist hier.
DIENSTAG, 10. NOVEMBER
Annika Bengtzon blieb auf der Türschwelle zur Redaktion stehen und blinzelte in das blendend weiße Licht der Neonröhren. Die Geräusche stürzten auf sie ein, zischende Drucker, surrende Scanner, das leise Klappern kurz geschnittener Fingernägel auf Tastaturen. Menschen fütterten die Apparate mit Texten, Bildern, Buchstaben, Kommandos, Signalen, füllten die digitalen Mägen, ohne sie jemals sättigen zu können.
Sie atmete tief durch und warf sich ins Meer. Am Newsdesk wurde die Art konzentrierte Arbeit verrichtet, die selbst in der heutigen Zeit noch vollkommen lautlos ist. Spiken, der Chef vom Dienst, hatte die Füße übereinander geschlagen auf seinen Schreibtisch gelegt und las den Ausdruck eines Artikels. Der stellvertretende Nachrichtenchef überflog den flimmernden Computerbildschirm mit entzündeten Augen, Reuters und Agence France Presse, Associated Press und TTA und TTB, nationale und internationale Nachrichten, Sport und Wirtschaft, Schlagzeilen und Agenturmeldungen aus der ganzen Welt in einem endlosen Strom. Noch war die Zeit der exaltierten Ausrufe nicht gekommen, des lautstarken Enthusiasmus oder der Enttäuschung über Storys, die entweder im Kasten waren oder sich zerschlagen hatten, des engagierten Argumentierens für den einen oder anderen Blickwinkel.
Annika ging vorbei, ohne zu sehen oder gesehen zu werden. Doch plötzlich durchbrachen ein Geräusch und eine auffordernde Stimme die elektrisch aufgeladene Stille. »Du willst schon wieder verreisen?«
Sie zuckte zusammen und machte unwillkürlich einen Schritt zur Seite. Dann wandte sie ihren flackernden Blick Spiken zu. Eine Halogenlampe blendete sie.
»In der Übergabe steht, dass du heute Nachmittag nach Lulea fliegst.«
Ihre Hüfte traf auf die Ecke des Morgendesks, als sie viel zu abrupt in Richtung ihres Glaskastens abbog. Sie blieb stehen, schloss kurz die Augen, merkte, dass ihr die Tasche von der Schulter rutschte, und drehte sich noch einmal um.
»Vielleicht, warum?«
Aber der Chef vom Dienst war schon abgetaucht und hatte sie allein auf dem Meer zurückgelassen, eingeklemmt zwischen Blicken und digitalen Seufzern.
Sie leckte sich die Lippen und schob ihre Tasche wieder auf die Schulter.
Jetzt ging es unter vollen Segeln nach Hause. Ihr Aquarium kam rasch näher.
Erleichtert zog sie die Schiebetür auf, floh in den Raum hinter den müde herunterhängenden Gardinen, schob die Tür hinter sich wieder zu und lehnte den Hinterkopf an das kühle Glas.
Das Büro hatte sie immerhin behalten dürfen.
Dinge, die Bestand hatten, wurden immer wichtiger, sowohl für sie selbst als auch für die Gesellschaft als Ganzes. Wenn sich überall Chaos ausbreitete und die Kriege ihre Gestalt änderten, war es außerdem wichtiger denn je, zurückzublicken und aus der Geschichte zu lernen.
Sie ließ Tasche und Mantel auf die Besuchercouch fallen und schaltete den Computer ein. Die aktuelle Berichterstattung schien sie immer weniger anzugehen, obwohl sie mitten in ihrem pulsierenden elektronischen Herzen saß.
Meldungen, die heute auf der Titelseite landeten, gerieten schon morgen wieder in Vergessenheit. Es interessierte sie schlichtweg nicht mehr, das ENPS von AP zu verfolgen, dieses Nachrichtenmonster des digitalen Zeitalters.
Sie strich sich über die Haare.
Vielleicht war sie auch nur müde.
Das Kinn in die Hände gestützt, wartete sie, während der Computer hochfuhr, und holte dann ihr Material heraus. Die Sache, an der sie arbeitete, schien ihr richtig interessant zu sein, doch leider waren die Flanelllappen in der Führungsetage nicht ganz so begeistert wie sie.
Sie dachte an Spiken und den Tonfall seiner Stimme, breitete ihre Notizen aus und machte sich an ihre Präsentation.
Das Treppenhaus war dunkel. Der Junge schloss die Wohnungstür hinter sich und lauschte angespannt. Wie üblich pfiff der Wind durch das undichte Fenster an der Treppe zu
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