Der Rote Wolf
1969 explodierte ein Jagdflugzeug vom Typ Drache mitten auf dem Gelände des Fliegerhorsts F21 in Kallaxheden bei Lulea«, sagte sie schnell. »Ein Mann erlitt so schwere Verbrennungen, dass er seinen Verletzungen erlag.«
»Es war ein Wehrpflichtiger, nicht wahr?«
»Wie sich mit der Zeit herausstellte, ja. Er wurde mit dem Rettungshubschrauber in die Universitätsklinik von Uppsala geflogen und schwebte eine Woche zwischen Leben und Tod, bevor er starb. Seine Familie bekam einen Maulkorb verpasst und machte ein paar Jahre später einen Riesenaufstand, weil sie kein Schmerzensgeld vom Militär bekommen hatte.«
»Und es ist nie jemand verhaftet worden?«
»Die Polizei verhörte an die tausend Personen, die Sicherheitspolizei vermutlich noch mehr. Man nahm alle linken Gruppierungen bis zur letzten Schuppe unter die Lupe, ohne etwas zu finden. Die Sache gestaltete sich jedoch insgesamt recht schwierig. Die verschiedenen Splittergruppen hatten sich gut voneinander abgeschottet. Keiner wusste vom anderen, wie er hieß, alle hatten einen Decknamen.«
Anders Schyman lächelte etwas wehmütig, er hatte damals selbst für kurze Zeit die Identität eines »Per« angenommen.
»Aber so etwas lässt sich doch nie geheim halten.«
»Natürlich nicht ganz, immerhin hatte jeder in den einzelnen Gruppen enge Freunde, aber wenn ich es richtig verstanden habe, gibt es selbst heute noch Leute in Lulea, die einander nur über den Decknamen kennen, den sie Ende der sechziger Jahre in irgendwelchen linken Gruppen benutzten.«
Sie selbst war damals wahrscheinlich noch gar nicht geboren, dachte er.
»Und wer hat es getan?« »Was?«
»Das Flugzeug in die Luft gejagt.«
»Ach so, vermutlich die Russen. Jedenfalls kam das Militär zu dieser Schlussfolgerung. Die weltpolitische Lage war damals ja noch ein wenig anders als heute, wir reden hier über eine Zeit übelsten Wettrüstens, der Kalte Krieg war auf seinem Höhepunkt angelangt.«
Er schloss kurz die Augen und beschwor die Bilder und den Zeitgeist herauf.
»Es gab eine Riesendiskussion über die Bewachung von Militäranlagen«, erinnerte er sich auf einmal.
»Genau. Plötzlich forderte die Öffentlichkeit, will sagen, die Medien, dass jeder einzelne Standort in ganz Schweden besser bewacht werden müsse als der Eiserne Vorhang. Das war natürlich völlig unrealistisch und hätte den gesamten Verteidigungshaushalt verschlungen. Aber man verschärfte die Wachmaßnahmen eine Zeit lang und baute innere Sicherheitszonen auf dem Gelände des Fliegerhorsts auf. Superhohe kameraüberwachte Absperrungen mit Alarmanlagen um alle Hangars und Ähnliches.«
»Und jetzt wollen Sie dorthin fahren? Mit welchem Chef vom Dienst haben Sie darüber gesprochen?«
Sie warf einen Blick auf die Uhr.
»Mit Jansson. Ich habe mir vorsorglich einen Platz in einem Flieger heute Nachmittag reservieren lassen. Ich möchte mich mit einem Journalisten von der
Norrlands-Tidningen
treffen, einem Typen, der angeblich eine ganze Menge neuer Informationen zu dem Anschlag ausgegraben hat. Er reist am Freitag nach Südostasien und ist bis Weihnachten weg, deshalb wird die Zeit ein wenig knapp. Sie müssen die Sache nur noch absegnen.«
Anders Schyman war plötzlich wieder ein wenig gereizt, vielleicht, weil sie sich so hektisch entschuldigte.
»Ja, konnte denn Jansson das nicht erledigen?«
Sie wurde rot.
»Im Prinzip schon«, sagte Annika Bengtzon und sah ihm in die Augen, »aber Sie wissen ja selbst, wie das läuft. Er wollte Ihre Erlaubnis, um auf der sicheren Seite zu sein.«
Schyman nickte.
Sie schloss vorsichtig die Tür hinter sich. Er sah ihr lange nach und wusste genau, wie sie sich fühlte. Sie ist ein maßloser Mensch, dachte er. Ich habe das schon immer gewusst. Ihr fehlt jeglicher Selbsterhaltungsinstinkt. Sie ist bereit, sich Dingen auszusetzen, auf die normale Menschen nicht einmal im Traum kämen. Weil ihr irgendetwas fehlt. Auf ihrem Lebensweg ist etwas abhanden gekommen, mit der Wurzel ausgerissen worden, und die Narben sind mit den Jahren abgeschliffen worden, sodass sie sich selbst und der Welt gegenüber schonungslos wurde. Erhalten hat sich ihr Gerechtigkeitspathos, die Wahrheit als Leuchtturm in einem Gehirn voller Finsternis. Sie kann einfach nicht anders.
Das konnte bisweilen ungeheuer anstrengend sein.
Schyman erinnerte sich daran, wie die Euphorie der Redaktionsleitung nach dem Studium der Auflagenzahlen während des Weihnachtswochenendes ein jähes Ende gefunden hatte, als
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