Der Rote Wolf
Redaktion des
Abendblatts
stattfinden zu lassen. Der Aufsichtsratsvorsitzende Herman Wennergren wäre fast auf die Knie gefallen, als er das Logo seiner Zeitung in einer Liveübertragung auf CNN sah. Schyman selbst war die Übertragung aus verschiedenen Perspektiven in Erinnerung geblieben, zum einen hatte er während der Sendung buchstäblich hinter Annika Bengtzon im Scheinwerferlicht gestanden, zum anderen konnte er die unzähligen Wiederholungen auf allen Kanälen vor dem Bildschirm genießen.
Er hatte damals auf ihren zerzausten Hinterkopf gestarrt, die angespannten Schultern bemerkt. Auf dem Bildschirm hatte Bengtzon später blass und ein wenig verwirrt gewirkt, hatte jedoch klar, wenn auch ein wenig einsilbig, in ordentlichem Schulenglisch geantwortet. Gott sei Dank keine peinlichen Gefühlsausbrüche, hatte Wennergren aus Schymans Büro einem Vertreter der Eignerfamilie über Handy berichtet.
Er erinnerte sich noch gut an das Entsetzen, das er empfunden hatte, als er an der Tunnelmündung stand und die Schüsse hörte. Keine tote Reporterin, hatte er gedacht, was auch immer, aber keine tote Reporterin.
Er wandte den Blick vom Botschaftsbunker ab und setzte sich auf seinen Stuhl.
»Eines schönen Tages wird er unter Ihnen zusammenbrechen«, sagte Annika Bengtzon und schob die Tür hinter sich zu.
Ihm wollte kein Lächeln gelingen.
»Ich kann es mir leisten, einen neuen zu kaufen. Die Zeitung verkauft sich wie warme Semmeln«, sagte er.
Die Reporterin warf einen flüchtigen, fast scheuen Blick auf die Diagramme auf dem Tisch. Schyman lehnte sich zurück und musterte sie, während sie sich vorsichtig in einen seiner großen Besuchersessel setzte.
»Ich möchte eine neue Artikelreihe schreiben«, sagte sie, auf ihre Notizen schauend. »Nächste Woche jährt sich der Anschlag auf F21 in Lulea, also würde es sich anbieten, damit anzufangen. Ich finde, es wird Zeit, das Ganze noch einmal ordentlich zusammenzufassen, alle bekannten Fakten ins Gedächtnis zu rufen. Das sind, ehrlich gesagt, nicht besonders viele, aber ich dachte, ich hake mal ein bisschen nach. Es sind zwar inzwischen mehr als dreißig Jahre vergangen, aber einige der Angestellten von damals sind auch heute noch bei der Luftwaffe. Vielleicht packt der eine oder andere ja jetzt aus. Wenn man nicht fragt, bekommt man auch keine Antwort …«
Schyman nickte und faltete die Hände auf dem Bauch.
Als der ganze Rummel um die Geiselnahme vorbei gewesen war, hatte sie sich drei Monate freigenommen. Um Überstunden abzufeiern, hatten sie offiziell erklärt. Als sie dann Anfang April in die Redaktion zurückkehrte, bestand sie darauf, als Reporterin unabhängig arbeiten zu können, und beschloss, sich des Themas Terrorismus anzunehmen, seiner Geschichte und Konsequenzen. Keine Enthüllungen, eher Routineberichterstattung vom Ground Zero am 11.
September, einige Artikel über die Bombe in dem finnischen Einkaufszentrum, Gespräche mit ein paar Überlebenden des Anschlags auf Bali.
Tatsache war, dass sie in letzter Zeit nicht besonders viel zustande gebracht hatte. Nun wollte sie sich offensichtlich noch weiter in die Vergangenheit des Terrorismus vertiefen, und es stellte sich seiner Meinung nach immer mehr die Frage, wie relevant dies eigentlich sei und ob jetzt nicht der richtige Zeitpunkt gekommen war, sich darüber mit ihr zu streiten.
»Das klingt nicht schlecht«, sagte er bedächtig. »Das könnte sogar richtig gut werden. Wir entstauben unsere alten nationalen Traumata: die Flugzeugentführung von Bulltofta, den Bombenanschlag auf die Botschaft der Bundesrepublik Deutschland, das Drama am Norrmalmstorg …«
»… und den Mord an Olof Palme, ich weiß, und von allen ist über den Anschlag auf F21 am wenigsten geschrieben worden.«
Sie hatte ihre Notizen in den Schoß gelegt und beugte sich vor.
»Das Militär hielt damals alle Informationen zurück und verwies auf die notwendige Geheimhaltung. Zu der Zeit gab es noch keine mediengewandten Pressesprecher im Verteidigungsministerium. Am Ende musste der arme Kommandeur des Geschwaders da oben die Reporter persönlich anbrüllen, dass sie gefälligst die Sicherheitsinteressen des Landes respektieren sollten.«
Lass sie noch ein bisschen weitermachen, beschloss er.
»Also, was wissen wir alles in allem?«, sagte er.
Sie schaute pflichtschuldigst auf ihre Blätter, aber er hatte das Gefühl, dass sie ohnehin alle Einzelheiten auswendig wusste.
»In der Nacht vom 17. auf den 18. November
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