Der Rubin im Rauch
Narben,
und seine Nase war leicht eingedrückt. Abgesehen von der Kleidung,
die er trug, sah er gar nicht wie ein Geistlicher aus.
„Aber wissen Sie", sagte sie nach einer Weile, „Ihr Bruder weiß
etwas über den Tod meines Vaters. Bestimmt. Das kleine Mädchen
hat gesagt, daß er eine Nachricht für mich hat."
Er schaute plötzlich auf. „Natürlich. Es tut mir leid -- das geht auch
Sie an, nicht wahr? Zum Geschäftlichen also jetzt. Wir müssen ihn so
bald als möglich dort rauskriegen. Ich kann heute und morgen nicht
von der Pfarrei weg -- Abendandacht heute abend und morgen eine
Beerdigung..." Er blätterte in einem Kalender. „Freitag müßte gehen.
Da kann ich was verschieben. Wir holen Matthew am Freitag da
raus."
„Aber was ist mit Mrs. Holland?"
„Was soll mit ihr sein?"
„Adelaide sagt, sie hält ihn wie einen Gefangenen. Und -- "
„Das Opium macht ihn zum Gefangenen. Wir sind schließlich in
England! Da kann man nicht Leute gegen ihren Willen
gefangenha lten."
Er sah so kampfeslustig aus, daß Sally um jeden Angst gehabt hätte,
der ihn davon abzuhalten versucht hätte.
„Die Sache hat allerdings einen Haken", fuhr er etwas ruhiger fort.
„Er wird was von dem schrecklichen Zeug da brauchen, um
weiterzuleben. Ich bring ihn hierher und schau zu, daß er von der
Droge wegkommt, aber ohne sie schafft er das nie. Ich muß ihn nach
und nach entwöhnen -- "
„Wie wollen Sie ihn rauskriegen?"
„Wenn notwendig mit meinen Fäusten. Er wird kommen. Aber...
könnten Sie was für mich tun? Könnten Sie was von dem Zeug
beschaffen?"
„Ich könnt's versuchen. Sicher mach ich das. Aber wird es in
Oxford nicht auch verkauft? In der Apotheke?"
„Nur in Form von Laudanum. Und der Raucher braucht das
Gummi, oder das Harz oder wie das verfluchte Zeug auch heißen mag.
Ich frag nicht gern... aber wenn Sie nichts besorgen können, muß es
ohne gehen."
„Ich kann's auf jeden Fall versuchen", sagte sie.
Er fuhr mit der Hand in die Tasche und zog drei Zwanzig-SchillingMünzen heraus.
„Hier. Kaufen Sie so viel wie möglich. Und falls es Matthew nicht
mehr brauchen sollte, dann kriegt's wenigstens 'n andrer armer Teufel
nicht in die Hände."
Er begleitete sie zur Tür und reichte ihr die Hand. „Vielen Dank,
daß Sie gekommen sind", sagte er. „Es ist eine große Erleichterung zu
wissen, wo er ist. Ich komme dann am Freitag zu Ihnen in die Burton
Street. So gegen 12 Uhr."
Sally ging zu Fuß nach Oxford zurück, um das Geld für die
Droschke zu sparen. Die Straße war breit und angenehm und voller
Wagen und Fuhrwerke; diese ruhigen Häuser und grünen Gärten
schienen zu einem anderen Planeten zu gehören als die dunkle,
geheimnisvolle Welt, in die plötzlich der Tod einbrach, zu der sie nun
zurückkehrte. Sie kam an einem Haus vorbei, in dessen verwildertem,
aber nettem Garten drei Kinder -- von denen das älteste nicht viel
jünger als sie war -- gerade ein Feuer anfachten. Bei ihren Rufen und
ihrem Gelächter fühlte Sally sich einsam und verlassen; wohin war
ihre Kindheit entschwunden? Und doch war sie erst vor ein oder zwei
Stunden schrecklich verlegen gewesen, weil sie sich vorkam wie ein
Kind und nicht die Gelassenheit eines Erwachsenen besaß. Sie hätte
alles darum gegeben, London und Mrs. Holland und die 'Sieben
Wohltaten' vergessen zu können und in einem dieser großen,
komfortable n Häuser zu leben mit Kindern, Tieren, Freudenfeuern,
Unterrichtsstunden und Spielen... Vielleicht war es nicht einmal jetzt
zu spät, Gouvernante oder Erzieherin zu werden oder...
Und es war doch zu spät. Ihr Vater war gestorben, und es war etwas
nicht in Ordnung, und außer ihr gab es keinen, der die Ordnung
wiederherstellen konnte. Sie ging schneller und kam auf die breite St.
Giles Straße, die ins Zentrum der Stadt führte.
Erst in anderthalb Stunden sollte sie sich mit Frederick treffen. Sie
verbrachte sie damit, indem sie sich die Stadt anschaute -- zuerst
ziellos, da die alten Schulgebäude sie wenig interessierten. Aber dann
entdeckte sie den Laden eines Photographen und ging sofort darauf
zu. Eine Stunde lang unterhielt sie sich mit dem Besitzer, schaute sich
im Laden um und vergaß Wapping, Opium und den Rubin völlig
(zumindest für eine kleine Weile).
„Hab doch gewußt, daß es richtig war, nach Oxford zu fahren",
sagte Frederick im Zug. „Du errätst nie, mit wem ich heut nachmittag
gesprochen hab."
„Sag mir's halt", bat Sally.
„Also, ich hab 'n alten
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