Der Rubin im Rauch
eine heiße Fleischpastete holen. Sie schnitten
sie in vier Teile -- ein Stück sparten sie für Rosa auf -- saßen auf der
Werkstattbank und verzehrten sie. Trembler machte Kaffee, und
während Sally ihn trank, fragte sie sich im Stillen, was so
ungewöhnlich an diesem Haushalt war. Es hatte nicht nur damit zu
tun, daß man nicht abspülte oder auf einer Werkstattbank zu
ungewöhnlicher Stunde Mahlzeiten einnahm. Sie saß in einem alten
verschlissenen Sessel am Feuer in der Küche und rätselte daran
herum. Trembler las am Tisch die Zeitung, und Frederick pfiff leise,
während er mit irgendwelchen Chemikalien in einer Ecke hantierte.
Die Antwort darauf hatte sie immer noch nicht gefunden, als Rosa viel
später Kälte mit hereinbrachte und lärmend und triumphierend eine
große Ananas mitbrachte. Sie weckte Sally auf, die ungewollt
eingeschlafen war, und fuhr die anderen an, weil sie ihr nicht das
Zimmer gezeigt hatten. Sie rätselte immer noch daran herum, als sie
fröstelnd in das enge, kleine Bett kletterte und die Bettdecken um sich
herum hochzog. Doch kurz bevor sie einschlief, kam ihr die Antwort.
Klar, so war es, dachte Sally. Sie behandelten Trembler nicht als
Dienstboten. Und sie behandelten sie selbst nicht wie ein kleines
Mädchen. Wir sind alle ebenbürtig. Das ist so eigenartig...
EINE REISE NACH OXFORD
Mrs. Holland erfuhr die Nachricht vom Tod Henry Hopkins' von
einer alten Bekannten, einer Frau, die eine oder zwei Straßen weiter
im Arbeitshaus von St. George irgendeine undurchsichtige Funktion
einnahm. Diese Frau hatte es von einem Fabrikmädchen in ihrer
Unterkunft gehört, deren Bruder in derselben Straße als Straßenkehrer
arbeitete wie ein Zeitungsverkäufer, dessen Vetter mit dem Mann, der
den Leichnam gefunden hatte, gesprochen hatte. Auf diese Art und
Weise gingen die Neuigkeiten aus Londons Verbrecherwelt von Mund
zu Mund. Mrs. Holland war beinahe sprachlos vor Wut über Hopkins'
Unfähigkeit. Sich einfach so mir nichts dir nichts ermorden zu lassen!
Natürlich würde die Polizei nie auf die Spur des Mörders kommen,
aber Mrs. Holland hatte die Absicht, dies zu tun. Das Wort machte die
Runde und drang wie Rauch durch Gassen und Höfe, Straßen, Kais
und Docks, daß Mrs. Holland von Hangmans Kai einiges dafür geben
würde, den Namen des Mörders von Henry Hopkins zu erfahren. Sie
brachte es unter die Leute und wartete ab. Irgendwas würde schon
dabei rauskommen, und lange würde es sicher auch nicht dauern.
Es gab schon einen Bürger, der sich von Mrs. Holland verfolgt
fühlte, und das war Samuel Selby.
Er war von ihrem Brief völlig überrascht worden. Er hatte
Erpressung für unmöglich gehalten, die Spuren waren gut verwischt.
Und ausgerechnet aus Wapping... Aber nach einem Tag, den er hinund hergerissen zwischen Panik und Gelassenheit verbracht hatte,
überlegte er das Ganze noch mal.
In diesem Brief standen Dinge, die niemand hätte wissen dürfen --
richtig. Aber es gab noch mehr belastende Dinge, die nicht einmal
erwähnt waren, und wo war schließlich der Beweis? Wo waren die
Rechnungen, die Frachtbriefe, die Schiffspapiere, aus denen man ihm
einen Strick drehen könnte? Davon war in dem Brief überhaupt nicht
die Rede. Nein, dachte er, vielleicht ist da weniger dran, als es den
Anschein hat. Aber ich muß mich vergewissern... Deshalb schrieb er
einen Brief.
Samuel Selby
Schiffsmakler
Cheapside
Dienstag, 29. 10. 1872
Mrs. M. Holland
Pension Holland
Hangmans Kai
Wapping
Liebe Mrs. Holland,
besten Dank für Ihre Kontaktaufnahme vom 25. des Monats. Ich
möchte Ihnen mitteilen, daß der Vorschlag Ihres Klienten nicht ohne
Interesse ist. Ich würde ihn gern zu einem Gespräch in mein Büro am
Donnerstag, den 31. um 10 Uhr einladen.
Ihr ergebener
Diener S. Selby
Mal sehen, was das bringt, dachte er, während er den Brief
formulierte. Er neigte dazu, die Existenz dieses Klienten, dieses
geheimnisvollen Herrn überhaupt anzuzweifeln; das klang eher nach
Hafenklatsch. Nichts weiter.
Der Mittwochmorgen war kalt; Nebel lag in der Luft. Frederick
kündigte Sally beim Frühstück (es gab weich gekochte Eier) an, daß er
mit ihr nach Oxford fahren würde. Er könne immer noch ein paar
Aufnahmen machen, und außerdem könne sie vielleicht jemanden
brauchen, der sie im Zug wachhielte, falls sie wieder einschlafen
sollte. Er sagte das ganz lässig, aber sie wußte, daß er sie für gefährdet
hielt. Ohne ihre Pistole fühlte sie sich verletzbar und freute sich
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