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Der Rubin im Rauch

Der Rubin im Rauch

Titel: Der Rubin im Rauch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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über
seine Gesellschaft.
    Die Fahrt war schnell vorbei. Gegen Mittag waren sie in Oxford
und aßen im Bahnhofsrestaurant zu Mittag. Sally hatte sich im Zug
ungezwungen unterhalten -- sich mit Frederick zu unterhalten und ihm
zuzuhören, schien die natürlichste und angenehmste Sache auf der
Welt zu sein -- aber als sie ihm dann an einem mit Besteck und
Servietten gedeckten Tisch gegenübersaß, brachte sie komischerweise
den Mund nicht auf.
„Was schaust du denn so finster drein?" sagte er schließlich.
Sie hatte auf ihren Teller gestarrt und krampfhaft nach einem
    Gesprächsthema gesucht. Jetzt wurde sie rot.
„Ich hab gar nicht finster dreingeschaut", antwortete sie; gereizt und
kindisch klang es, das merkte sie.
Er hob die Augenbrauen und sagte nichts mehr.
Mit einem Wort, die Mahlzeit war kein Erfolg, und sie trennten sich
unmittelbar darauf; sie nahm eine Droschke zur Pfarrei St. John, und
er wollte Gebäude fotografieren.
„Sei vorsichtig", sagte er beim Abschied, und sie wäre am liebsten
umgedreht und hätte ihr Schweigen beim Essen erklärt, aber es war zu
spät.
    Die Pfarrei St. John befand sich etwa zwei Meilen vom Zentrum
von Oxford entfernt im Dorf Summertown. Die Droschke fuhr die
Banbury Road hinauf, an den neuen großen Backsteinvillen von
Oxford Nord vorbei. Das Pfarrhaus stand neben der Kirche in einer
ruhigen, kleinen Straße, die von Ulmen gesäumt war.
    Der Morgennebel hatte sich jetzt gelichtet, und eine fahle Sonne
schien, als Sally an die Tür klopfte.
„Der Pfarrer ist nicht da, aber Mr. Bedwell, Miss", sagte das
Mädchen, das die Tür öffnete. „Hier durch, bitte, ins
Studierzimmer..."
Vikar Nicholas Bedwell war ein untersetzter Mann mit hellem Haar
und humorvollem Gesichtsausdruck. Er riß die Augen auf, als sie
hereinkam, und sie sah überrascht, daß er sie voller Bewunderung
anschaute. Er bot ihr einen Stuhl an und drehte seinen eigenen vom
Schreibtisch weg, um ihr gegenüber sitzen zu können.
„Was kann ich für Sie tun, Miss Lockhart?" fragte er leutselig. „Das
Aufgebot?"
„Ich habe Nachricht von Ihrem Bruder", sagte sie.
Er sprang auf.
„Hab ich's doch gewußt!" schrie er und schlug sich mit der Faust in
die Handfläche. „Lebt er? Matthew lebt?"
Sie nickte.
„Sagen Sie mir alles, was Sie wissen!" bat er mit blitzenden Augen.
„Er ist in einer Pension in Wapping. Er ist seit etwa einer Woche
oder zehn Tagen dort, glaube ich, und... er raucht Opium. Ich glaube
nicht, daß er dort weg kann."
Der Gesichtsausdruck des Vikars verdüsterte sich sofort, und er
sank auf seinen Stuhl. Sally berichtete ihm kurz, wie sie davon gehört
hatte, und er hörte intensiv zu und schüttelte den Kopf, als sie geendet
hatte.
„Vor zwei Monaten bekam ich ein Telegramm", sagte er. „Man
teilte mir mit, daß er tot und daß sein Schiff untergegangen sei. Der
Schoner ,Lavinia' -- er war zweiter Maat."
„Mein Vater war auch an Bord", sagte Sally.
„Oh, meine Liebe!" rief er aus. „Es hieß, es gab keine
Überlebenden."
„Er ist ertrunken."
    „Es tut mir so leid..."
„Aber Sie sagen, Sie wußten, daß Ihr Bruder lebt?"
„Wir sind Zwillinge, Miss Lockhart. Unser ganzes Leben lang
    haben wir die Gefühle des anderen gespürt, haben gewußt, was der
andere gerade tat -- und ich war sicher, daß er nicht tot ist. Ich war
dessen so sicher, wie dieser Stuhl hier vor mir steht!" Er klopfte auf
die Lehne des Stuhls, auf dem er saß. „Kein Zweifel! Aber natürlich
habe ich nicht gewußt, wo er sich aufhält. Sie haben Opium
erwähnt..."
    „Deshalb kann er sich wahrscheinlich nicht losreißen."
„Diese Droge ist die Erfindung des Teufels. Sie hat mehr Leben
ruiniert, mehr Vermögen zugrunde gerichtet und mehr Körper
vergiftet als sogar der Alkohol. Es gibt Zeiten, wissen Sie, in denen
ich gerne diese Pfarrei und alles, wofür ich gearbeitet habe, verlassen
und mein Leben dem Kampf dagegen widmen würde... Mein Bruder
wurde vor drei Jahren süchtig, im Fernen Osten. Ich -- ich habe das
auch gespürt. Und wenn dem nicht ein Ende gemacht wird -- wenn
man ihn nicht dazu bringt aufzuhören -- wird es schließlich auch ihn
umbringen."
    Sally schwieg. Der Vikar starrte wild auf die kalte Feuerstelle, als
sei die Asche, die dort lag, die der Droge. Seine Fäuste öffneten und
schlossen sich langsam; Sally bemerkte, daß sie groß und hart und
ziemlich furchterregend waren. Auch sein Gesic ht machte irgendwie
einen mitgenommenen Eindruck -- auf seiner Backe waren

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