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Der Rubin im Rauch

Der Rubin im Rauch

Titel: Der Rubin im Rauch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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gemalt waren. Frederick
zog am Klingelzug, und gleich darauf wurde die Tür von einem alten
Chinesen geöffnet. Er hatte eine weite, schwarze Seidenrobe an, ein
Käppchen auf dem Kopf und einen Zopf. Er verneigte sich vor ihnen
und machte Platz, als sie eintraten. Sally schaute sich um. Sie waren in
einem Vorraum, der mit einer eleganten Tapete ausgestattet war; das
ganze Holz war in einem dunkelroten, glänzenden Rot lackiert, und
von der Decke hing eine verzierte Laterne. Ein intensiver, süßlicher
Geruch hing in der Luft.
Der Diener verschwand und kam nach einer Weile mit einer
Chinesin mittleren Alters, die ein reich besticktes Gewand trug,
wieder. Das Haar war streng nach hinten gekämmt, eine schwarze
Seidenhose trug sie unter dem Gewand und rote Pantoffeln an ihren
winzigen Füßen. Sie verneigte sich und deutete mit einer
Handbewegung auf einen Raum im Innern.
„Bitte ergebenst, mein bescheidenes Haus zu betreten", sagte sie.
Ihre Stimme war tief und musikalisch und völlig ohne Akzent. „Sie,
Sir, sind Mr. Frederick Garland, der Lichtbildner. Aber ich hatte noch
nicht die Ehre, die Bekanntschaft ihrer schönen Gefährtin zu machen."
Sie betraten den Raum. Während Frederick erklärte, wer Sally war
und was sie wollten, schaute Sally sich erstaunt um. Die Beleuchtung
war ganz schwach; nur zwei oder drei chinesische Laternen
durchdrangen die rauchige Dunkelheit. Alles, was in dem Raum
angemalt oder lackiert werden konnte, hatte die gleiche blutrote Farbe,
und auf den Türrahmen und den Balken an der Decke schlängelten
sich geschnitzte, geifernde Drachen, die vergoldet waren. Alles
machte den Eindruck eines bedrückenden Reichtums auf sie; und es
schien, als geisterten in dem Raum die gemeinsamen Träume all jener,
die jemals hier Vergessen gesucht hatten.
An der Wand -- es war ein großer, langer Raum -- befanden sich in
bestimmten Abständen niedrige Ruhebetten, und auf jedem lag ein
Mann, der offensichtlich schlief. Aber nein! Da war auch eine Frau,
kaum älter als Sally, und dort noch eine mittleren Alters; ordentlich
gekleidet. Und dann bewegte sich einer der Schläfer, und der alte
Diener eilte mit einer langen Pfeife herzu und kniete auf den Boden,
um sie zu stopfen. Hinter ihr sprachen Frederick und Madame Chang
mit leiser Stimme. Sally schaute sich nach einem Sitzplatz um, sie
fühlte sich schwindlig. Der Rauch der frisch angezündeten Pfeife
umhüllte sie süß, verlockend und eigenartig. Sie atmete einmal ein,
dann noch einmal und -- plötzliches Dunkel. Erdrückende Hitze. Sie
hatte ihren Alptraum.
Sie lag ruhig da, mit weit geöffneten Augen, und suchte die
Dunkelheit zu durchdringen. Ungeheure, krampfartige Angst drückte
auf ihr Herz. Sie versuchte, sich zu bewegen, konnte es aber nicht --
und doch hatte sie nicht das Gefühl, gefesselt zu sein; ihre Glieder
waren zu schwach, sich zu bewegen. Sie war sich bewußt, daß sie
kurz zuvor noch wach gewesen war... Aber sie hatte schreckliche
Angst, die ständig wuchs. Es war schlimmer denn je, weil es so
deutlich war. Sie wußte, daß jede Sekunde ganz nah bei ihr im
Dunkeln ein Mann anfangen würde zu schreien, und aus nackter
Angst davor begann sie zu weinen. Und dann fing es an.
Der Schrei durchzuckte die Dunkelheit wie ein scharfes Schwert.
Sie glaubte, vor Angst zu sterben. Aber es waren Stimmen zu hören!
Das war neu -- und sie sprachen nicht Englisch -- und sie konnte sie
trotzdem verstehen --
„Wo ist es?"
„Nicht bei mir! Ich bitte Sie -- ich flehe Sie an -- es ist bei einem
Freund - "
„Sie kommen! Schnell!"
Und dann ein entsetzliches Geräusch, das Geräusch eines scharfen
Instruments, das sich ins Fleisch bohrt -- als würde etwas zerrissen.
Darauf folgte ein plötzliches Keuchen und Stöhnen, als würde
jemandem der ganze Atem auf einmal aus der Lunge gepreßt: und
dann ein Spritzen und Sprudeln, das schnell in ein Tröpfeln abebbte.
Licht. Irgendwo ein winziger Lichtschimmer. (Sie war wach und in
der Opiumhöhle! Das war doch unmöglich -)
Sie konnte dem Traum nicht entfliehen. Endlos spulte er sich ab,
und sie mußte es durchstehen. Sie wußte, was als nächstes kommen
würde: eine tropfende Kerze, die Stimme eines Mannes
„Seht! Seht ihn an! Mein Gott - "
Das war die Stimme von Major Marchbanks! An dieser Stelle war
sie früher immer aufgewacht -- aber jetzt passierte etwas anderes. Das
Licht kam näher und wurde auf eine Seite gehalten, und das Gesicht
eines jungen Mannes schaute

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