Der Rubin im Rauch
alle Schiffe in den
Docks. Und jetzt bin ich weggerannt, da wird sie ihr Messer wetzen.
Ganz bestimmt. Sie hat 'n Stein, mit dem sie das macht, und 'ne
Schachtel, in die sie mich reinlegt, und im Hof ist 'ne Stelle, da
vergräbt sie mich. Sie hat mir gezeigt, wo ich liegen soll, wenn sie
mich zerstückelt hat. Das andre kleine Mädchen liegt da draußen im
Hof. Wollt nie rausgehn deswegen."
Die anderen schwiegen. Adelaide, die einem vorkam wie ein
Mäuschen, brach ab und saß zusammengesunken da, die Augen
gesenkt. Trembler langte über den Tisch.
„Da", sagte er. „Iß dein Brötchen, sei lieb."
Sie kaute ein bißchen daran herum.
„Ich geh rauf und schau nach meinem Bruder", sagte Bedwell,
„wenn's recht ist."
Sally sprang auf.
„Ich zeig Ihnen, wo er ist", sagte sie und führte ihn nach oben.
„Er schläft tief", sagte er, als er herauskam. „Ich hab ihn schon öfter
so erlebt. Wahrscheinlich schläft er 'n ganzen Tag lang."
„Wenn er aufwacht, schicken wir ihn Ihnen mit der Post zu", sagte
Frederick. „Wenigstens wissen Sie, wo er ist. Bleiben Sie über Nacht?
Gut. Meine Güte, ich hab vielleicht Hunger. Trembler, wie war's mit
'n paar Bücklingen? Adelaide, du wohnst jetzt bei uns. Du kannst dich
'n bißchen nützlich machen und 'n paar Tassen und Teller und so was
holen. Sally -- sie braucht was zum Anziehen, 's gibt da 'n Laden mit
gebrauchten Kleidern um die Ecke -- Trembler zeigt ihn dir."
Das Wochenende verstrich schnell. Rosa kümmerte sich sofort um
Adelaide, nachdem sie das erste Erstaunen über das volle Haus
überwunden hatte, und schien in Dingen erfahren zu sein, die Sally
nicht konnte: zum Beispiel, wie man Adelaide dazu bringen konnte,
sich zu waschen, oder wann sie zu Bett gehen sollte, oder wie man ihr
Haar schneiden könnte oder Kleider für sie aussuchen. Sally wollte
helfen; sie hatte den guten Willen, freundlich zu ihr zu sein, wußte
aber nicht recht, wie sie es anstellen sollte, während Rosa das Kind
impulsiv umarmte und küßte oder ihr im Haar zauste oder über das
Theater schwatzte; und Trembler erzählte Witze oder brachte ihr
Kartenspiele bei.
Während also Adelaide mit diesen beiden ein vertrautes Verhältnis
hatte, war sie Sally gegenüber scheu und zurückhaltend und schwieg,
wenn sie allein zusammen waren. Sally wäre gekränkt gewesen, wenn
nicht Rosa darauf geachtet hätte, sie an jeder Unterhaltung teilhaben
zu lassen und sie wegen Adelaides Zukunft um Rat zu fragen.
„Weißt du, daß sie von nichts 'ne Ahnung hat?" fragte Rosa sie am
Sonntagabend. „Außer Wapping und Shadwell kennt sie nicht mal die
Namen der Londoner Stadtviertel -- sie hat nicht mal den Namen der
Königin gewußt! Sally, warum bringst du ihr nicht lesen und
schreiben bei?"
„Ich glaub nicht, daß ich das kann..."
„Klar kannst du das. Prima sogar."
„Sie hat Angst vor mir."
„Sie macht sich Sorgen um dich wegen Mrs. Holland. Und wegen
dem Herrn. Weißt du, sie war schon 'n dutzendmal bei ihm oben. Sie
sitzt nur da und hält seine Hand, und dann geht sie wieder..."
Matthew Bedwell war seit Sonntagmorgen nicht aufgewacht, und
Adelaide war es, die ihn aufge weckt hatte. Aber er war so verwirrt,
daß er nicht wahrnehmen konnte, wo er sich befand oder was
geschehen war. Sally ging nach oben zu ihm, nachdem er etwas Tee
getrunken hatte, aber er sprach nicht mit ihr.
„Weiß nich", sagte er dann oder: „Ich hab's vergessen", oder: „Hab
kein Gedächtnis mehr", und trotz Sallys Bemühungen, die ihm immer
wieder den Namen ihres Vaters, den der Firma und des Schiffs und
des Firmenagenten Mr. van Eeden vorsagte, blieb er stumm. Nur der
Ausdruck ,Die sieben Wohltaten' zeigte eine Reaktion, und die war
nicht ermutigend, denn das bißchen Farbe, das in seinem Gesicht war,
verschwand noch vollends, und er brach in Schweiß aus und fing an
zu zittern. Frederick gab ihr den Rat, ihn noch etwa einen Tag in Ruhe
zu lassen.
Am Samstagnachmittag traf sie sich mit Jim an ihrem Treffpunkt
und teilte ihm mit, wo sie wohnte und weshalb. Als er von Bedwells
und Adelaides Rettung erfuhr, weinte er fast vor lauter Enttäuschung,
nicht dabei gewesen zu sein. Er schwor, so bald wie möglich zu
kommen und nachzusehen, ob es ihren neuen Freunden gut ginge.
„Man weiß nicht, wem man trauen kann", sagte er.
An diesem Wochenende wurden auch die ersten künstlerischen und
dramatischen Aufnahmen gemacht. Eine stereographische Aufnahme
zu machen, war viel einfacher als
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