Der Rubin im Rauch
sprach jedes Wort sorgfältig aus, als müsse er
sich erst ins Gedächtnis rufen, wie es auszusprechen sei.
„Ich verstehe Sie nicht", sagte sie.
Er lächelte.
Sie konnte sein Gesicht nur schwach erkennen in dem
unregelmäßigen Licht der Gaslaternen, an denen sie vorbeifuhren. Es
war breit und freundlich; aber die dunklen, funkelnden Augen
musterten sie langsam von Kopf bis Fuß. Sie hatte das Gefühl, als
berühre er sie, und verkroch sich noch mehr in die Ecke und schloß
die Augen.
Die Droschke bog nach rechts in die Commercial Road ab. Er
zündete eine Zigarre an; die Droschke war voller Rauch, was Übelkeit
und Schwindelgefühle bei ihr verursachte.
„Kann ich bitte ein Fenster aufmachen?"
„Entschuldigung. Wie gedankenlos von mir!"
Er öffnete das Fenster auf seiner Seite und warf die Zigarre hinaus.
Sally faßte währenddessen verstohlen in die Tasche, aber er hatte sich
umgedreht, ehe sie die Waffe gefunden hatte. Keiner sagte ein Wort.
Die einzigen Geräusche waren das Rollen der Räder und das Klappern
der Hufe. Ein paar Minuten verstrichen. Sie schaute aus dem Fenster.
Sie fuhren am Limehouse Hafen des Regents Kanal vorbei, und sie
sah Schiffsmasten und den Schein vom Feuer eines Nachtwächters.
Weiter ging es zur East India Dock Road. Irgendwo in der Nacht,
nicht weit von hier war Madame Chang... ob sie ihr wohl helfen
würde, wenn es Sally gelänge, dorthin zu kommen? Aber sie würde
sich nicht an den Weg erinnern können. Ihre Hand tastete sich ganz
langsam in der Tasche weiter vor, näher an die Waffe heran. Und ihr
Mut sank, denn während ihres Marsches zur London Bridge hatte es
stark geregnet, und die Tasche war durchnäßt. Bitte laß das Pulver
trocken sein... Weitere zehn Minuten verstrichen schweigend, und die
Droschke bog in eine enge Straße ein, die auf der einen Seite von
einer Fabrik und auf der anderen von einer hohen Mauer begrenzt war.
Das einzige Licht kam von einer einzelnen Gaslaterne an der
Straßenecke. Die Droschke fuhr an den Bürgersteig, blieb stehen, und
van Eeden beugte sich aus dem Fenster und gab dem Kutscher etwas
Geld. Wortlos stieg der Kutscher ab und nahm dem Pferd das Geschirr
ab. Sally merkte, wie die Kutsche schaukelte, als er abstieg, hörte das
Klirren des Geschirrs und spürte einen kleinen Ruck, als die Deichsel
auf den Boden gelegt wurde. Dann hörte sie schwaches Hufgeklapper,
als der Kutscher das Pferd um die Ecke wegführte. Dann herrschte
wieder Stille.
Sally hatte die Pistole gefunden. Sie lag verkehrt; Sally setzte sich
anders hin und drehte bei dieser Gelegenheit die Tasche herum und
packte den Griff. Alles fühlte sich so feucht an...
„Wir haben noch eine gute halbe Stunde Zeit", sagte van Eeden.
„Hinter dieser Mauer ist ein Schiff, das bei Flut auslaufen wird. Ich
werde an Bord gehen. Entweder Sie kommen mit mir -- lebendig --
oder Sie bleiben hier -- tot."
„Warum wollen Sie mich mitnehmen?"
„Oh, das muß ich doch gewiß nicht erklären? Sie sind kein Kind
mehr."
Sally schauderte. „Warum haben Sie meinen Vater getötet?"
„Weil er sich in die Angelegenheiten meiner Gesellschaft
einmischte."
„Die sieben Wohltaten?"
„Sehr richtig."
„Aber wie können Sie denn zu einer chinesischen
Geheimgesellschaft gehören? Sind Sie nicht Holländer?"
„Oh, zum Teil. Es ist mein Schicksal, daß ich meinem Vater mehr
ähnle als meiner Mutter, aber meine Vorfahren spielen keine Rolle.
Meine Mutter, müssen Sie wissen, war die Tochter von Ling Chi, der
seinen Lebensunterhalt in einer traditionellen und lobenswerten Art
und Weise verdiente -- man könnte es Seeräuberei nennen. Ist es dann
nicht ganz natürlich, daß ich dem Beispiel meines berühmten
Großvaters zu folgen trachtete? Ich genoß das Privileg einer
europäischen Erziehung, so daß ich einen Posten als Agent einer
wohlbekannten Firma bekommen konnte, die eine
Schiffahrtsgesellschaft betrieb, und dann ein Arrangement treffen
konnte, das beiden Seiten zugute kam."
„Beiden Seiten?"
„Der Firma Lockhart und Selby und der Gesellschaft zu den ,Sieben
Wohltaten'. Opium hat die Verbindung geschaffen. Ihr Vater hat sich
geweigert, da einzusteigen -- eine kurzsichtige und sinnlose Politik
meiner Ansicht nach, die schließlich zu seinem Tod führte. Mir gefiel
das Arrangement, das ich getroffen hatte, sehr gut, und ich war
verärgert, als er drohte, es zu ruinieren."
„Worin bestand dieses Arrangement?" fragte Sally, um Zeit zu
gewinnen.
Ihr Daumen war am
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