Der Ruf der Kiwis
Militär zu gehen ...«
Lilian erschrak. »Bloß das nicht, Ben! Dann erschießen sie dich. Außerdem musst du für das ANZAC einundzwanzig sein.« Sie umklammerte seine Hand. Es war kühl im Stall. Aber ein besserer Treffpunkt fiel ihr nicht ein.
»Da kann man aber tricksen«, erklärte Ben. »Und ich kann immerhin beweisen, dass ich auf der Universität in Cambridge war. Normalerweise muss man da über achtzehn sein.«
»Aber nicht einundzwanzig!«, beharrte Lilian ängstlich. Sie musste ihm das auf jeden Fall ausreden. Roly O’Brien schrieb nicht oft, aber das, was er von Gallipoli berichtet hatte, ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. In Büchern und Liedern war Krieg zweifellos romantisch, aber die Wirklichkeit schien anders zu sein. Und ihr Ben mit einem Gewehr ... Sicher würde er wundervolle Verse über das Heldentum seiner Kameraden schreiben, aber schießen oder gar treffen traute sie ihm nicht zu. Ihr musste unbedingt etwas einfallen.
»Ich habe nachgedacht«, verkündete Lily beim nächsten Treffen, fast einen Monat später. Die letzten Donnerstage war Tim nicht zum Stammtisch gekommen; Lilian hatte ihn nach Blenheim zu einer Tagung begleitet. George Greenwood war ebenfalls anwesend gewesen, sowie andere Aktionäre. Es war geplant, die Lambert-Mine um eine Kokerei zu erweitern. Ben nahm diese Information desinteressiert auf. Er kam gar nicht auf den Gedanken, dass Florence Biller wahrscheinlich einen Mord begangen hätte, um als Erste davon zu erfahren. Lilian berichtete ihm ohne jegliche Bedenken von ihres Vaters Plänen, sie war viel zu sehr mit dem Austausch von Zärtlichkeiten beschäftigt, als sich über die möglichen Folgen Gedanken zu machen.
Nach der langen Enthaltsamkeit schmeckten ihr Bens Küsse noch süßer – und bestärkten sie in dem Entschluss, den sie in Blenheim gefasst hatte. Ein heimlicher Besuch auf dem Standesamt hatte wesentlich dazu beigetragen.
»Ich bin doch jetzt siebzehn. Da kann ich heiraten.«
»Wen willst du denn heiraten?«, neckte Ben und öffnete mutig die obersten Knöpfe ihrer Bluse.
Lilian verdrehte die Augen. »Dich natürlich!«, erklärte sie. »Es ist ganz einfach. Wir nehmen den Zug nach Christchurch und dann nach Blenheim. Mit dem Wagen geht es zwar schneller, aber stehlen will ich nicht. Und von Blenheim aus geht die Fähre nach Wellington. Da heiraten wir. Oder in Auckland. Das ist vielleicht sicherer, in Wellington suchen sie uns womöglich. Australien ginge natürlich auch ...« Lilian zögerte ein wenig. Australien schien ihr doch recht weit weg.
»Aber ich habe keine Papiere«, gab Ben zu bedenken. »Sie werden nicht glauben, dass ich achtzehn bin.«
»Siebzehn reicht, auch für Jungen. Die paar Monate bis zu deinem Geburtstag können wir abwarten. Und ansonsten braucht man nur zu schwören, dass man nicht anderweitig verheiratet ist oder blutsverwandt oder so.«
Wenn man unter zwanzig war, benötigte man zusätzlich die Einwilligung der Eltern, aber damit belastete Lilian Ben vorerst nicht. Sie beabsichtigte, Tims Unterschrift kurzerhand zu fälschen, und bei Florence Biller hatte sie da noch weniger Hemmungen.
»Dann studierst du eben in Auckland. Geht doch auch, oder?«
Ben kaute auf seiner Unterlippe.
»Ginge sogar sehr gut«, meinte er dann. »Sie nehmen die Forschung im Bereich der Maori-Kultur sehr ernst, bauen ein Museum für die Artefakte und so was. Mein Vater ist ganz begeistert. Er denkt daran, bald mal hinzufahren. Wenn er uns dann natürlich erwischt ...«
Lilian stöhnte. Manchmal war Ben etwas zu zögerlich für ihren Geschmack.
»Wenn wir verheiratet sind, Ben, sind wir verheiratet. Das kann man nicht einfach so rückgängig machen. Außerdem wird es doch möglich sein, in einer so großen Stadt wie Auckland deinem Vater aus dem Weg zu gehen!«
Ben nickte. »Das wäre tatsächlich eine Lösung ...«
Es war zumindest ein faszinierender Gedanke, obwohl er es sich nicht wirklich vorstellen konnte. Sein Herz hämmerte schon bei dem Gedanken an eine Flucht auf die Nordinsel. Er würde das niemals wagen!
2
Gwyneira McKenzie hatte das Herrenhaus von Kiward Station immer als zu groß empfunden. Schon als sie es gemeinsam mit ihrer Familie bewohnte, hatten viele Räume leer gestanden, dann jahrelang ganze Zimmerfluchten, ehe Kura und William Martyn Gerald Wardens alte Wohnung neu eingerichtet hatten. Trotz des vielen Raums um sie herum hatte Gwyneira sich jedoch nie richtig einsam gefühlt – bis nach James’
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