Der Ruf der Kiwis
sie den letzten Sommer nicht vorwiegend im Haus verbracht wie die weißhäutige Miss Bleachum, dachte Gwyn.
»Du musst natürlich gar nichts, Glory ...«, sagte Miss Bleachum sanft und warf Gwyn einen bedeutsamen Blick zu. »Gloria redet nicht gern über ihre Erlebnisse. Wir wissen nur, dass sie über China und Australien gereist ist ...«
Gwyneira nickte bewundernd. »Und das ganz allein, eine so weite Reise! Ich bin stolz auf dich, mein Kleines!«
Gloria brach in Tränen aus.
Gwyneira begleitete Miss Bleachum und Gloria zur Schule und kämpfte sich durch eine verkrampfte Teestunde mit Miss Bleachum und Mrs. Lancaster. Die Lehrerinnen waren nett und versuchten alles, um ein Gespräch zwischen Urgroßmutter und Enkelin in Gang zu bringen, aber im Wesentlichen blieb es vergeblich. Gloria antwortete einsilbig, zerkrümelte ihren Teekuchen zwischen den Fingern und schien die Augen nicht von ihrem Teller heben zu können.
»Nehmen Sie den Nachtzug, Mrs. McKenzie, oder kann ich Ihnen eine Übernachtungsmöglichkeit anbieten?«, fragte Mrs. Lancaster fürsorglich.
Gwyneira schüttelte den Kopf. »Zweimal diese Fahrt an einem Tag, das wäre dann doch ein bisschen viel für meine alten Knochen. Aber ich habe ein Hotel in Dunedin gebucht. Wenn Sie uns nachher also einfach ein Taxi rufen würden ...«
Bei den Worten »uns« und »Hotel« wurde Gloria kreidebleich. Gwyneira sah, dass sie Miss Bleachum bittende Blicke zuwarf, aber die Lehrerin schüttelte den Kopf. Gwyneira konnte all dem nicht mehr folgen. Wollte Gloria nicht weg? Es sah aus, als fürchte sie sich zu Tode, die Schule zu verlassen. Gwyneira dachte daran, klein beizugeben und das Angebot anzunehmen, auch ihrerseits in der Schule zu übernachten. Aber dann überlegte sie es sich anders. Ein solches Verhalten würde das Problem nur um einen Tag verschieben. Außerdem musste sie dann den Plan aufgeben, am nächsten Morgen noch in Dunedin einkaufen zu gehen. Und wenn sie Miss Bleachum richtig verstanden hatte, brauchte Gloria dringend ein paar neue Sachen.
»Holst du dann bitte deine Tasche, Kleines?«, fragte sie freundlich, Glorias Ressentiments scheinbar nicht bemerkend. »Oder hast du noch gar nicht gepackt? Das macht nichts, sicher hilft dir Miss Bleachum, und ich unterhalte mich derweil ein bisschen mit Mrs. Lancaster.«
Sarah Bleachum verstand den Wink und verzog sich mit Gloria auf ihr Zimmer. Mrs. Lancaster bestätigte derweil Gwyneiras Eindrücke. »Es ist zweifellos richtig, das Mädchen heute schon mitzunehmen, und neue Kleider braucht sie auch. Sie besitzt nur zwei Kostüme, das andere entspricht ziemlich genau dem, das sie heute getragen hat. Ich habe Miss Bleachum mehrmals vorgeschlagen, mit ihr einkaufen zu gehen, wir hätten ihr das Geld selbstverständlich vorgestreckt. Aber Gloria wollte nicht.«
Gwyneira zog die Augenbrauen hoch. »Dann hat sie dieses ... hm ... Ensemble ... nicht mit ... Hilfe Ihrer Damen ausgewählt?«
Mrs. Lancaster lachte. »Mrs. McKenzie, wir sind eine Mädchenschule, kein Nonnenkloster! Unsere Schülerinnen tragen konventionelle Schulkleidung, aber außerhalb der Schulzeit halten wir sie keineswegs dazu an, sich zu kleiden wie eine Lehrerin in mittlerem Alter. Ich finde ja persönlich, dass da auch Miss Bleachum ... Aber lassen wir das, sie hat sicher Gründe, ihre Weiblichkeit ein bisschen ... hm ... zu unterdrücken. Und ich fürchte, Gloria ebenfalls. Sie werden sehr viel Geduld mit ihr haben müssen.«
Gwyneira lächelte. »Ich habe alle Geduld der Welt«, meinte sie. »Zumindest mit Pferden und Hunden. Bei Menschen versagt sie schon mal ... aber ich werde mir Mühe geben.«
»Sie sind Witwe?«
Über Gwyneiras Gesicht fiel ein Schatten. »Ja, seit knapp zwei Jahren. Ich werde mich nie wirklich daran gewöhnen ...«
»Entschuldigen Sie, ich wollte nicht an Ihre Trauer rühren. Es geht nur darum ... leben Männer in Ihrem Haushalt, Mrs. McKenzie?« Mrs. Lancaster biss sich auf die Lippen.
Gwyneira zog die Stirn kraus. »Mrs. Lancaster, ich verwalte eine Schaffarm ...« Sie lächelte. »Kein Nonnenkloster! Natürlich beschäftigen wir Viehhirten, Verwalter, ein Maori-Stamm lebt auf unserem Land. Was soll die Frage?«
Mrs. Lancaster kämpfte deutlich mit der Antwort. »Gloria tut sich schwer mit Männern, Mrs. McKenzie. Was ist ... was ist mit diesem Jack? Gloria hat von ihm erzählt, und ich glaube, Jack ist der Hauptgrund, weswegen sie die Heimkehr fürchtet.«
Gwyneira funkelte die Rektorin an. Sie
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