Der Ruf der Kiwis
Vater viel herum und lernte auch andere junge Männer kennen.
Hier jedoch täuschte sich Elaine. Lilian träumte nach wie vor von Ben, dessen Gedichte sie unter ihrem Kopfkissen aufbewahrte. Sie verwarf eine Idee nach der anderen, mit dem Jungen in Kontakt zu kommen, aber schließlich entwickelte sie einen Plan, für dessen Durchführung sie nur ihren kleinen Bruder bestechen musste. Bobby kassierte drei Rollen Lakritze dafür, dass er am Sonntag vor dem Gottesdienst unauffällig mit Ben Biller zusammenstieß. Scheinbar vertieft in ein »Fangen«-Spiel rannte der Knabe in Ben hinein, brachte ihn fast zu Fall und klammerte sich kurz an ihn, als brauche er eine Stütze.
»Toter Briefkasten, Südbuche, Friedhof!«, wisperte der Kleine wichtig. »Astgabel, rechts, auf Kopfhöhe ...« Bobby Lambert zwinkerte Ben noch kurz zu und wirbelte dann weiter. Ben blieb stirnrunzelnd zurück, offensichtlich bemüht, die Informationen zu ordnen.
Lilian spähte während des Gottesdienstes besorgt zu ihm hinüber. Wollte er sich nicht langsam auf den Weg machen? Er konnte doch nicht warten, bis der Gottesdienst vorbei und der Friedhof womöglich voller Leute war!
Ben brauchte ein bisschen länger, um sich über die Bedeutung von Bobbys Nachricht klar zu werden. Ihm fiel auch nicht gleich ein, dass der Kleine Lilians Bruder war. Deshalb stand er erst gegen Ende des Gottesdienstes auf und lief aus der Kirche. Florence schaute ein wenig unwillig, entdeckte dann aber Lilian bei ihren Eltern und wirkte beruhigt. Ben musste jetzt nur noch den Zettel finden ... Lilian betete zum ersten Mal an diesem Morgen mit wirklicher Inbrunst.
Vor der Kirche traf sie später einen auffällig glücklichen Ben. Der Junge strahlte derartig, dass Lilian schon fürchtete, seine Mutter könnte Fragen stellen. Die war jedoch in ein Gespräch mit dem Reverend vertieft und bemerkte nicht einmal, dass Lilian ihrem Sohn kurz zuzwinkerte und das Sieg-Zeichen in seine Richtung machte. Der tote Briefkasten in der Südbuche war zweifellos ein Durchbruch in ihrer Beziehung.
Die nächste Zeit gestaltete sich überaus aufregend für die jungen Liebenden. Zwar sahen sie sich lediglich in der Kirche oder zufällig im Ort, wobei beide Desinteresse heucheln mussten, da sie in der Regel Tim und Florence begleiteten – brieflich jedoch unterhielten sie regen Kontakt. Besonders Lilian ließ sich immer neue Verstecke einfallen, in denen sie Nachrichten oder kleine Liebesgaben für ihren Ben deponierte. Ben selbst war weniger konspirativ veranlagt, griff ihre Ideen aber auf und tauschte ihre Päckchen mit selbst gebackenen Keksen und ihre reich mit selbst gemalten Blumenranken, Herzchen und Engelchen angereicherten Briefe eifrig gegen immer neue Elegien über ihre Schönheit und Klugheit.
Lilian schrieb gelegentlich Poesie-Album-Sprüche ab, berichtete aber hauptsächlich über ihren Alltag. Ihre Briefe betrafen ihr Pferd, das Auto, das ihr immer mehr ans Herz wuchs, je tiefer sie es wagte, das Gaspedal niederzutreten, und natürlich ihren brennenden Wunsch, wieder mal persönlich mit Ben zusammenzutreffen.
»Kannst du nicht nachts ausbrechen? Vielleicht hast du ja einen Baum vor dem Fenster oder so was?«
Ben war der Gedanke, sich nachts aus dem Haus zu schleichen, noch nie gekommen, aber grundsätzlich erschien er ihm so prickelnd, dass er gleich ein Gedicht darüber schrieb, wie Lilians Haar im Mondschein leuchten musste.
Lilian fand das hinreißend, war aber dennoch etwas enttäuscht. In seinen Gedichten konnte Ben sich stundenlang darüber auslassen, welche Heldentaten er begehen und welchen Gefahren er trotzen würde, um einen Kuss von Lilians Lippen zu erlangen. Aber in Wirklichkeit blieb er untätig. Schließlich entschloss das Mädchen sich zum Handeln.
»Donnerstagnacht, halb zwölf im Stall des Lucky Horse«, schrieb sie verwegen. Ein Treffpunkt, der Ben das Blut in den Kopf trieb, denn das Lucky Horse war nicht nur ein Pub, sondern auch das Stundenhotel der Madame Clarisse. Es kostete ihn schlaflose Nächte, darüber nachzugrübeln, wie seine schöne, unschuldige Lily in einen solchen Sündenpfuhl geraten konnte und ob es mit seinem Gewissen vereinbar wäre, sie darin auch noch zu bestärken.
Lilian machte sich keine dementsprechenden Sorgen. Sie dachte praktisch wie stets. Das Lucky Horse bot sich schlicht deshalb an, weil hier der Stammtisch ihres Vaters tagte. Tim Lambert und Matt Gawain ließen keinen Donnerstagabend aus, und neuerdings gehörte es
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