Der Ruf der Kiwis
sondern bei ihrer Familie in der Bergarbeitersiedlung. Und Tim und Elaine hatten immerhin auch den Steinchenbewurf verschlafen. Langsam und so leise wie möglich steuerte Lilian den schweren Wagen aus der Garage.
»Mach das Tor zu, Ben! Dann sehen sie morgens nicht gleich, dass der Wagen weg ist ... Nein, den linken Riegel! Meine Güte, kannst du denn nicht mal ein Tor zumachen, ohne dir die Finger zu klemmen?«
Ben lutschte an seinem gequetschten Daumen, als Lilian hinaus auf die Straße fuhr. Er zitterte jetzt vor seiner eigenen Courage.
»Ich soll noch mal ins Haus? Und wenn meine Eltern aufwachen?«
»Sie hatten einen langen Tag. Du darfst bloß im Treppenhaus nichts umwerfen. Geh einfach rein, such dein Zeug zusammen, und dann sind wir weg. Vergiss nicht den Pass!«
Lilian verbrachte eine enervierende halbe Stunde am Steuer des Autos, ein paar Seitenstraßen entfernt vom Stadthaus der Billers. Vor ihrem inneren Auge standen tausend Komplikationen. Aber dann fiel Ben doch wieder auf den Sitz neben sie.
»Mein Vater ...«, murmelte er. »Er hat mich erwischt ...«
»Was?«, fragte Lily. »Und warum bist du dann hier? Hast du ... Ben, du hast ihn doch nicht niedergeschlagen oder erschossen oder so?« In Büchern und Filmen pflegte es in der Regel so zu enden. Auch wenn Lilian Ben eigentlich keine Gewalttätigkeiten zutraute.
Ben schüttelte den Kopf. »Nein, er hat mir das hier gegeben ...« Der Junge nestelte eine Hundertdollarnote aus der Tasche. »Er ... es war irgendwie gespenstisch, ich ... ich hatte meine Sachen geholt, aber ich brauchte doch den Pass, und der ist in seinem Arbeitszimmer, und da ging ich dann rein, und da ... da war er. Im Dunkeln. Mit einer Flasche Whiskey. Und er hat mich nur angeguckt und gesagt ...«
»Ja?«, fragte Lilian, bereit zur Sammlung heroischer Abschiedsworte.
»Er sagte: ›Du gehst?‹ Und ich sagte: ›Ja.‹ Und dann hat er das Geld aus der Tasche gekramt und sagte ...«
»Was?« Lilian wurde langsam ungeduldig. Immerhin checkte sie mit einem Blick, dass Ben eine Tasche mit Kleidungsstücken bei sich hatte, und startete schon mal den Wagen.
»Er sagte: ›Mehr hab ich gerade nicht.‹« Ben schluckte.
»Und?«, fragte Lily.
»Und nichts«, bemerkte Ben. »Ich bin dann eben gegangen. Ach ja, ›danke‹ hab ich noch gesagt.«
Lilian atmete auf. Gut, das taugte nicht für ein Drama, aber immerhin war Ben herausgekommen, und das sogar mit dem Segen seines Vaters. Sie selbst hätte die Gunst der Stunde natürlich genutzt, um Caleb auch noch die Heiratserlaubnis unterschreiben zu lassen. Immerhin hatte Ben an den Pass gedacht.
»Wir fahren das Auto in den Wald, gleich bei eurer Mine, da finden sie es morgen«, meinte Lilian. »Hast du den Schlüssel für das Tor, oder müssen wir drüberklettern?«
Ben hatte den Schlüssel, und auch die Waggons standen so da, wie er es beschrieben hatte. Eine gute Stunde, bevor die Lokomotive erwartet wurde, war noch niemand da, und Ben und Lilian schaufelten einen möglichst komfortablen Verschlag für die Reise in einen Berg Steinkohle. Die Vorstellung, sich dabei nicht schmutzig zu machen, war allerdings illusorisch. Als die beiden Stunden später – der Zug war längst unterwegs und die Sonne aufgegangen – die Plane lüfteten und sich ans Licht wühlten, sahen sie aus wie Bergarbeiter. Ben lachte über Lilians Mohrengesicht und küsste ihr ein bisschen Staub von der Nase.
»Wo sind wir wohl?«, fragte sie mit einem Blick auf das atemberaubende Panorama der Südalpen. Der Zug überfuhr gerade eine grazile Brücke, die seinem Gewicht kaum gewachsen schien. Lilian hielt den Atem an. Unter ihnen tat sich eine Schlucht auf, durch die sich ein weißblauer Gebirgsbach schlängelte. Hinter ihnen lagen zum Teil noch schneebedeckte Gipfel.
»Jedenfalls weit weg von der Westküste«, meinte Ben erleichtert. »Ob sie uns schon vermissen?«
»Sicher«, erklärte Lilian. »Die Frage ist eher, ob sie wissen, dass wir mit diesem Zug weg sind. Wenn sie darauf kommen, fangen sie uns in Christchurch ab.«
»Können wir nicht vorher aussteigen?«, erkundigte sich Ben.
Lilian zuckte die Schultern. »Normalerweise schon, in Rolleston zum Beispiel. Das ist der letzte Halt vor Christchurch. Aber ob der Güterzug da hält?« Sie überlegte. »Er wird auf jeden Fall bei Arthur’s Pass halten. Zumindest muss er da ganz langsam fahren, da können wir abspringen. Und dann nehmen wir den ganz normalen Personenzug nach Christchurch.«
»Und
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