Der Ruf der Kiwis
ich soll da arbeiten, meine Mutter hat schon mit meinem Onkel telefoniert. Mitten in der Nacht, sie war so schrecklich wütend. Da muss noch was gewesen sein außer uns ...«
Lilian verdrehte die Augen. Ben schaffte es wieder mal nicht, eins und eins zusammenzuzählen. Sie hatte ihm von der Kokerei erzählt und von den geplanten Enthüllungen an diesem Abend. Zweifellos war Florence Biller auch deshalb so außer sich gewesen.
»Sie kann dich doch nicht zwingen«, meinte sie jetzt tröstend. »Sag ihr einfach, du gehst nicht. Du hast keine Lust, in einem Büro zu arbeiten.«
»Lily, du verstehst nicht!« Ben umfasste ihre Oberarme, als wollte er sie schütteln, aber dann vergrub er lieber sein Gesicht in ihrem dichten, offenen Haar. »Ich soll nicht im Büro arbeiten, sie schicken mich in ein Bergwerk! Mein Onkel sagt, bei ihm müsste jeder von der Pike auf anfangen. Mindestens ein paar Monate als Hauer unter Tage. Seinen Söhnen hätte das auch die Flausen ausgetrieben.«
»
Du
sollst Kohle hauen?«, fragte Lilian. Ben war handwerklich eher ungeschickt, das war ihr seit langem klar. Inzwischen führte sie auch seine Erfolge beim Rudern eher auf sein Rhythmusgefühl und seine strategischen Fähigkeiten zurück als auf körperliche Kraft.
»Ich kann das nicht, Lily!«, klagte Ben. »Und ich hab’s wirklich versucht, ich wollte ihr sagen, dass ich nicht mitmache. Und dass sie mich schließlich nicht an den Haaren auf die Fähre schleppen könnte und all das, was du immer sagst. Aber ich hab’s nicht geschafft, Lily! Wenn ich vor ihr stehe, bin ich wie erstarrt. Ich krieg kein Wort mehr raus und ... na ja, meinem Vater geht’s ja genauso.«
Lilian legte tröstend den Arm um ihn. »Ben, wir wollten doch sowieso weglaufen.«
Ben nickte heftig. »Deshalb bin ich da. Lass uns verschwinden, Lily. Jetzt gleich, mit dem Frühzug!«
Lilian runzelte die Stirn. »Aber der Frühzug geht nach Westport, Ben. Der nach Christchurch fährt erst um elf.«
»Nicht der!«, trumpfte Ben auf. »Von unserer Mine aus geht ein Kohletransport nach Christchurch. Um sechs Uhr morgens. Die Waggons stehen bereit, die Bahnarbeiter hängen sie nur an, wenn die Lokomotive kommt. Wenn wir auf einen davon klettern, merkt das keiner.«
»Aber wir werden aussehen wie die Mohren, wenn wir in Christchurch ankommen«, gab Lilian zu bedenken.
»Dann steigen wir einfach früher aus und waschen uns irgendwo ...« Bens Plan entsprang dem Mut der Verzweiflung.
Lilian entwickelte blitzschnell Verbesserungsideen.
»Wir brauchen Decken. Oder besser noch, eine Plane, um den Kohlestaub abzuhalten. Ganz wird es nicht klappen, aber wenigstens so weit wie möglich. Habt ihr so was in der Mine? Bestimmt. Und wir sollten unsere ältesten und hässlichsten Kleider anziehen. Die werfen wir dann weg, wenn wir in Christchurch ankommen – wir landen ja sowieso auf dem Güterbahnhof, nicht? Da wird sich schon ein Schuppen oder so was finden, in dem wir uns umziehen können. Ich muss dann bloß schnell packen. Wo sind denn deine Sachen, Ben?«
Ben sah sie verständnislos an.
»Ben! Dein Gepäck! Wolltest du weg, so wie du bist? Ohne Kleidung zum Wechseln? Und hast du deinen Pass?«
So weit hatte Ben gar nicht gedacht. Offensichtlich war er in Panik losgelaufen, und nun mussten sie noch mal in die Stadt und wieder zurück. Lilian seufzte. Sie würde nicht darum herumkommen, sich das Auto auszuleihen. Zu Fuß waren die Wege bis um sechs nicht zu schaffen, und zu Pferde ... Es war aussichtslos, Ben auf Vickys Kruppe mitnehmen zu wollen.
Lilian selbst hatte der Frage ihres Gepäcks beim großen Aufbruch schon mehr als einen Tagtraum gewidmet. Sie brauchte nur wenige Minuten, um ins Haus zu laufen, sich in ein altes Hauskleid und einen nicht minder abgetragenen Mantel zu werfen und ein paar Ersatzkleidungsstücke in eine Tasche zu packen. Auch ihr Pass lag bereit. Lilian war in weniger als einer halben Stunde abfahrbereit. Ohne zurückzublicken, zog sie die Tür hinter sich zu. Beschwingt über das Abenteuer führte sie Ben zu den Ställen. Die Garage für das Auto war angebaut worden. Daneben befand sich eine kleine Wohnung, die Roly gehörte, jetzt aber seit Monaten verwaist war. Ein Glück für Lily.
Das Mädchen ließ das Auto an und erschrak über das Motorengeräusch, das die Nacht zu zerreißen schien. Natürlich würde es vom Haus aus nur schwach zu hören sein, aber wenn jemand wach war ...
Nun schlief Mary, das Hausmädchen, nicht bei den Lamberts,
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