Der Ruf der Kiwis
du meinst, den kontrollieren sie nicht?« Ben hatte seine Zweifel.
Lilian verdrehte die Augen. »Aus dem können wir in Rolleston aussteigen ...«
Arthur’s Pass, eine steile Gebirgsstraße, verband die Täler des Otira River und des Bealey River. Es musste unendlich mühsam und sehr gefährlich gewesen sein, hier Schienen zu verlegen, zum Teil gab es Tunnel. Der Zug schleppte sich über den Pass, und Ben und Lily hätten leicht abspringen können. Allerdings ging es neben den Gleisen oft meterweit in die Tiefe. Schließlich warteten sie, bis der Bahnhof in Sicht kam. Der Güterzug durchfuhr ihn zwar und stieß nur einen Signalton aus, aber Lily warf beherzt ihre Tasche vom Waggon und sprang, bevor er danach wieder Fahrt aufnahm. Ben folgte ihr und rollte geschickt ab. Für die Bahnlinie war das Land hier gerodet worden, in der Nähe des Bahnhofs gab es nur noch Buschland. Weiter Richtung Christchurch begannen Buchenwälder, wieder eine neue Kulisse im Panorama der Reise zwischen Christchurch und der Westküste.
Lilian und Ben war die Schönheit der Landschaft um sie herum jedoch vorerst egal. Wichtiger war, einen Fluss zu finden, an dem sie sich notdürftig waschen konnten. Da die Gegend reich an Wasserläufen war, fand sich schnell ein Bach, und die beiden schlugen lachend ein Lager auf. Allerdings erwies das Wasser sich als eiskalt. Der Tag war zwar sonnig, aber sie fröstelten allein bei dem Gedanken, sich nass zu machen oder auch nur umzuziehen. Arthur’s Pass war deutlich höher gelegen als Greymouth; jetzt, am Morgen, lag noch Raureif.
»Traust du dich reinzuspringen?«, neckte Lily und schlüpfte aus ihren vom Kohlestaub völlig geschwärzten Strümpfen.
»Wenn du dich auch traust!« Ben zog sein Hemd über den Kopf. Er hatte natürlich nicht daran gedacht, seine ältesten Sachen anzuziehen, sondern ein schönes Anzughemd verdorben.
»Dazu müsste ich mich ausziehen ...«, bemerkte Lilian und hielt ihre Zehen ins eiskalte Wasser.
»Das musst du sowieso.« Ben wies auf ihre Tasche mit den Kleidern zum Wechseln.
»Nicht ganz.« Lilian hob gespielt verschämt die Lider. »Aber ich mach’s, wenn du es auch machst.« Dabei knöpfte sie ihr verschmutztes Kleid auf.
Ben spürte die Kälte kaum noch, als er zusah, wie sie auch ihr Korsett löste und sich ihm nur noch im Unterzeug präsentierte.
»Jetzt du!«, sagte Lilian mit blitzenden Augen.
Fasziniert beobachtete sie, wie Ben seine Hosen auszog.
»So sieht das also aus«, bemerkte sie, als er schließlich nackt vor ihr stand. »Hatte ich mir größer vorgestellt.«
Ben errötete zutiefst. »Es ... hängt vom Wetter ab ...«, murmelte er. »Jetzt du ...«
Lilian runzelte die Stirn. Aber dann zog auch sie sich aus, nur um sofort fröstelnd ihren staubigen Mantel um sich zu ziehen.
»Du bist gleich ganz schwarz ...«, sagte Ben. »Aber du bist sehr schön!«
Lily lachte, nun doch verlegen. »Und du bist dreckig!«, rief sie. »Los, ich wasche dich!«
Sie tauchte ihr Unterkleid in den Bach und stürzte sich auf Ben. Gleich darauf spielten sie übermütig wie die Kinder mit dem eisigen Wasser, spritzten sich nass und versuchten, sich den Kohlestaub vom Körper zu reiben. Lilian hatte Seife mitgebracht, aber es war trotzdem nicht einfach. Der Staub war fettig und haftete fest an ihnen; man hätte warmes Wasser gebraucht, um ihn gänzlich loszuwerden. Immerhin hatte Lilian daran gedacht, ihr Haar vollständig unter einem Tuch zu verstecken. Ben musste seins waschen und fror sich dabei fast zu Tode. Das Ergebnis war nicht zufriedenstellend.
»Jedenfalls siehst du jetzt älter aus«, bemerkte Lilian. »Früh ergraut.«
Ben musste lachen. Er hatte selten so viel Spaß gehabt wie bei dieser übermütigen Balgerei im Bach an Arthur’s Pass. Lilian wirkte überglücklich.
»Aber ich bin immer noch Jungfrau«, fuhr sie vorwurfsvoll fort. »Und das, obwohl ich ganz ausgezogen war. Aber es war wirklich zu kalt. Wie machen das bloß die Eskimos?«
Schließlich trugen beide saubere Sachen, auch wenn sie immer noch fröstelten. Ben hatte nicht an einen warmen Mantel gedacht, und Lilian hatte auf die Mitnahme eines Umhangs zum Wechseln verzichtet, weil ihre Tasche zu schwer wurde. Jetzt bereute sie es. Ben versuchte, sie in seinen Armen warm zu halten, als sie zurück zum Bahnhof schlenderten, um auf den Personenzug nach Christchurch zu warten.
»Er hält hier ganz sicher?«, fragte Ben.
Lilian nickte mit klappernden Zähnen. »Und ich hoffe, er ist
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