Der Ruf der Kiwis
Schnitzen von Ornamenten und der Verzierung von Jadesteinen versuchte.
Maaka bestätigte das.
»Miss Gloria macht, was die Frauen so tun jetzt im Frühling – zusammensitzen, nähen, schnitzen, die Felder bestellen ... Gloria ist oft bei Rongo.«
Dies war zumindest keine schlechte Nachricht. Gwyneira schätzte die Maori-Hebamme durchaus.
»Sie reden mit den Geistern ...«
Das wiederum machte Gwyneira nervös. Gloria benahm sich zweifellos seltsam, seit sie zurück war. Wenn sie nun auch noch Geister beschwor ... ob sie auf dem Weg war, verrückt zu werden?
»Fass den Baum ruhig an ... spür seine Kraft und seine Seele.« Rongo wies Gloria an, mit einem Baum zu reden, während sie selbst die Zeremonie vorbereitete, mit der sie die Ernte der roten
rongoa-
Blüten vorbereitete. Nur eine
tohunga
durfte diese rgeheiligte Pflanze anrühren. Beim Pflücken und Trocknen der
koromiko
-Blätter hingegen hatte Gloria helfen dürfen. Die Blätter wirkten gegen Durchfall und Schmerzen, dazu gegen Nierenprobleme. Gloria merkte sich brav, was Rongo ihr erzählte, aber die Zwiesprache mit dem Baum war denn doch etwas viel für sie.
»Was bewegt dich zu der Ansicht, der Baum hätte weniger Seele als du?«, fragte Rongo. »Dass er nicht redet? Das sagt Miss Gwyn auch von dir ...«
Gloria lachte verlegen.
»Oder dass er sich nicht wehrt, wenn man mit Äxten auf ihn einschlägt? Vielleicht hat er seine Gründe?«
»Was denn für Gründe?«, fragte Gloria störrisch. »Was gibt’s denn für Gründe, sich umlegen zu lassen?«
Rongo zuckte die Schultern. »Frag nicht mich. Frag den Baum.«
Gloria lehnte sich an die harte Rinde der Südbuche und versuchte, die Kraft des Holzes zu spüren. Rongo ließ sie das bei allen möglichen Pflanzen tun, und auch bei Steinen oder Wasserläufen. Gloria tat es, weil ihr die Ruhe gefiel, die all diese ... ja, was? Wesen? Dinge? ... verströmten. Sie war gern mit Rongo zusammen. Und all ihren Geistern.
Rongo hatte ihre Zeremonie beendet und dozierte jetzt über die Destillation von Extrakten aus den
rongoa
-Blüten.
»Es wirkt gegen Halsschmerzen«, erklärte sie. »Und man kann Honig daraus kochen ...«
»Warum schreibst du das eigentlich nicht auf?« Gloria verließ ihren Baum und ging neben Rongo weiter durch das lichte Wäldchen. »Dann könnten es alle lesen.«
»Nur wenn sie lesen gelernt haben«, präzisierte Rongo. »Sonst müssen sie mich einfach fragen.« Sie lächelte. »Aber als ich so alt war wie du, habe ich genauso gedacht. Ich habe meiner Großmutter, Matahorua, sogar angeboten, es aufzuschreiben.«
»Und sie wollte nicht?«, fragte Gloria.
»Sie sah keinen Sinn darin. Wer das Wissen nicht braucht, muss sich auch nicht damit belasten. Wer lernen will, muss sich Zeit zum Fragen nehmen. So wird er ein
tohunga
.«
»Aber wenn man es aufschreibt, bewahrt man das Wissen für die Nachwelt.«
Rongo lachte. »So denken
pakeha
. Ihr wollt immer alles aufbewahren, niederschreiben – und vergesst es dann umso schneller. Wir bewahren das Wissen in uns. In jedem Einzelnen. Und halten es lebendig.
I nga wa o mua
... du weißt, was das heißt?«
Gloria nickte. Sie kannte die Redewendung. Wörtlich besagte sie: »Von der Zeit, die kommen wird.« Tatsächlich wurde damit jedoch Vergangenes bezeichnet – zur endlosen Verwirrung aller
pakeha
, die je den Versuch machten, Maori zu lernen. Gloria selbst hatte sich bislang nie Gedanken darüber gemacht. Aber jetzt empfand sie Zorn.
»In der Vergangenheit leben?«, fragte sie. »Immer wieder alles aufrühren, was man am liebsten vergessen möchte?«
Rongo zog sie neben sich auf einen Felsen und strich zärtlich über ihr Haar. Sie wusste, dass es nicht mehr um das Wissen darüber ging, wie man Honig aus
rongoa
-Blüten gewann.
»Wenn du deine Erinnerung verlierst, verlierst du dich«, sagte sie sanft. »Deine Geschichte macht dich zu dem, was du bist.«
»Und wenn ich das nicht sein will?«, fragte Gloria.
Rongo nahm ihre Hand. »Deine Reise ist ja noch längst nicht vorbei. Du sammelst weiter Erinnerungen. Und veränderst dich ... Auch deshalb schreiben wir nichts auf, Gloria. Denn Aufschreiben ist Festschreiben. Und nun zeig mir den Baum, mit dem du vorhin gesprochen hast.«
Gloria runzelte die Stirn. »Wie soll ich den denn wiederfinden? Hier stehen Dutzende Südbuchen. Und alle sehen gleich aus.«
Rongo lachte. »Schließ die Augen, Tochter, er wird dich rufen ...«
Gloria war immer noch verärgert,
Weitere Kostenlose Bücher