Der Ruf der Kiwis
es?«
»Grauenvoll«, bemerkte Wilson. »Aber die Leute werden es Ihnen aus den Händen reißen! Ich schicke es gleich nach Wellington! Mal sehen, was Bob Anderson dazu sagt.«
Ben Biller sträubte sich energisch gegen die Vorstellung, Lilian allein nach Wellington reisen zu lassen, und musste schließlich dadurch besänftigt werden, dass Wilson ihm ebenfalls eine Zugfahrkarte kaufte. So traf Ben sich mit Vertretern der dortigen Universität und sprach über mögliche Gastdozenturen, während Wilson und Lilian mit Bob Anderson verhandelten. Am Ende unterschrieb Lilian nicht nur einen Vertrag für
Die Herrin von Kenway Station
, sondern auch für einen Folgeband. Wilson riet ihr, damit noch zu warten, da der Vorschuss sicher höher ausfallen würde, wenn ihr erstes Buch sich gut verkaufte. Doch Lilian schüttelte den Kopf.
»Wir brauchen das Geld jetzt«, erklärte sie und entwickelte gleich eine Story.
Die Erbin von Wakanui
gestaltete sich als eine Art Neuseeland-Ausgabe von
Pocahontas
, in der sich ein
pakeha
in eine Maori-Prinzessin verliebte.
»Stelle ich mir wahnsinnig romantisch vor!«, begeisterte Lily sich beim anschließenden, gemeinsamen Abendessen in einem höchst noblen Restaurant. »Wenn es Krieg gab, mussten die Maori-Krieger zwischen den Beinen der Häuptlingstochter herkriechen, wissen Sie? Damit überschritten sie sozusagen die Schwelle vom friedlichen Menschen zum Kämpfer ohne Gnade. Und ihre Gefühle dabei, wenn sie weiß, dass ihr Vater diese Männer jetzt auf ihren Liebsten loslässt ...«
»Häuptlingstöchter, die eine Priesterinnenfunktion ausübten, waren stark einengenden
tapu
unterworfen«, bemerkte Ben mit säuerlichem Gesichtsausdruck. »Unwahrscheinlich, dass so ein Mädchen auch nur einen
pakeha
zu Gesicht bekommen hat, geschweige denn, dass er das überlebte ...«
»Nun übertreib’s mal nicht mit der Wissenschaft, Liebster!«, lachte Lilian. »Ich schreibe ja keine Studie über die Maori-Kultur, sondern nur eine gute Geschichte.«
»Wobei aber gerade dieses Ritual in seiner Funktion der Entmenschlichung des Kriegers fast eine emotionale Überfrachtung ...« Ben setzte zu einer längeren Erklärung an. Lilian lauschte ihm mit sanftem Lächeln und genoss derweil ihre Austern.
»Beachten Sie ihn gar nicht«, bemerkte Thomas Wilson leise zu Mr. Anderson. »Die Kleine liebt ihn wie eine Art exotisches Haustier. Ausdrucksverhalten und Kommunikationsformen sind ihr völlig fremd, aber sie zahlt bereitwillig Futter und Tierarzt.«
Dann wandte er sich wieder Lilian zu. »Was machen wir denn mit Ihrem Namen, Lilian? Ich schlage ein Pseudonym vor. Aber vielleicht behalten wir doch die Initialen bei? Was halten Sie von ›Brenda Boleyn‹?«
Lilian verbrachte die letzten Wochen ihrer Schwangerschaft am Schreibtisch in ihrer neuen, behaglichen Wohnung zwischen Queen Street und Universität. Der Vorschuss für ihre Bücher reichte nicht nur für die Miete, sondern auch für ein paar bessere Möbel und eine Entbindung in einem Hospital, auf die sowohl Ben als auch Thomas Wilson größten Wert legten. Beide fürchteten sich um Lilian zu Tode, während sie selbst der Sache gelassen gegenüberstand. Die Wehen setzten ein, nachdem sie eben den letzten Satz der
Herrin von Kenway Station
beendet hatte.
»Eigentlich wollte ich es noch redigieren ...«, meinte Lilian bedauernd, ließ sich dann aber doch von Ben in eine Droschke drängen. Inzwischen gab es fast nur noch Automobile, und Lilian stritt mit dem Fahrer, der ihrer Ansicht nach viel zu zögerlich fuhr.
Die Geburt war dann ein grässliches Erlebnis, nicht nur, weil Ben nicht dabei sein durfte – der Held ihres Romans hatte die Heldin höchstselbst und unter hochdramatischen Umständen von der Tochter seines Feindes entbunden, die er nun selbstlos als eigenes Kind großziehen wollte –, sondern auch, weil der Kreißsaal kalt war und nach Lysol stank und weil man Lilians Füße an einer Art Galgen festband und eine vierschrötige Krankenschwester sie jedes Mal anblaffte, wenn sie auch nur den leisesten Ton der Klage von sich gab. Die Frau hatte nicht das Geringste gemeinsam mit dem engelhaften Wesen aus Lilians erster Kurzgeschichte, und auch sonst kam Lily zu dem Ergebnis, dass Kinderkriegen in Wirklichkeit erheblich weniger reizvoll war, als in Liedern und Romanen dargestellt.
Erst der Anblick ihres Sohnes versöhnte sie wieder mit der Realität.
»Wir nennen ihn Galahad!«, bestimmte sie, als man den
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