Der Ruf der Kiwis
gerührt. Lilian ließ sofort die Story eines Helden von Gallipoli folgen, dessen Freundin ihn für tot hielt, aber allen Werbungen anderer widerstand, bis der Mann dann doch nach Jahren verwundet heimkehrte.
Von da an hatte sie den Platz im Feuilleton sicher. Die Leserinnen fieberten neuen Geschichten von BB entgegen. Ben Biller schüttelte sich, wenn er die Storys las.
»Das ist Schmutz und Schund!«, erklärte er entsetzt, zumal die Liebesszenen in den Geschichten von Woche zu Woche plastischer ausfielen. »Wenn jemals herauskommt, dass ich etwas damit zu tun habe ...«
»Hast du doch gar nicht, Liebster!« Lilian lachte und suchte nach ihrem Hut. Sie hatte gerade die nächste Geschichte beendet und machte Anstalten, den Text in die Queen Street zu bringen. Bald würde das allerdings Ben übernehmen müssen, ob er wollte oder nicht. Lilian kam sich mittlerweile vor wie ein gestrandeter Wal. Dabei hatte sie noch zwei Monate bis zur Geburt des Kindes vor sich – und unendlich viele Ideen für neue, rührselige Storys.
Nun war das auch bitter nötig. Die Mehreinnahmen hatten Lilian zwar immerhin ermöglicht, zwei Umstandskleider zu kaufen, und auch für die Ausstattung des Babys legte sie bereits Geld zurück. Aber an eine neue Wohnung war nach wie vor nicht zu denken. Ben hatte mit seiner Promotion zu tun und verdiente entsprechend weniger im Hafen.
»Ohne meinen Schmutz und Schund kommen wir nicht über die Runden. Den Leuten gefällt’s!«, erklärte Lilian trotzig.
Ben schenkte ihr einen fast qualvollen Blick. Er würde nie verstehen, warum sich die Mehrheit der Menschen viel mehr für Dinge wie die Ehe des britischen Königs interessierte als für die Schönheiten der polynesischen Grammatik. Immerhin waren ihm inzwischen auch seine eigenen Gedichte eher peinlich.
»Sie sollten es mit einem Roman versuchen«, bemerkte Thomas Wilson, nachdem er Lilians neue Manuskripte kurz überflogen hatte. »Die Leute sind ganz verrückt nach Ihren Geschichten. Im Ernst, Lilian, wenn ich den Leserbriefen folgen würde, könnte ich jeden Tag einen Ihrer Schmachtfetzen drucken.«
»Wird das gut bezahlt?«, erkundigte sich Lilian. Trotz der fortgeschrittenen Schwangerschaft sah sie wieder entzückend aus. Ihr weites Kleid in hell- und dunkelgrünen Schottenkaros harmonierte mit ihren lebhaften Augen und ihrem zurzeit etwas blassem Teint. Ihr Haar hatte sie aufgesteckt, zweifellos, um ein bisschen älter zu wirken. Auf ihrer Stirn standen Schweißperlen. Der lange Fußweg aus dem Hafenviertel in die Innenstadt musste sie erschöpft haben.
Wilson lächelte. »Der schnöde Mammon! Wo ist das Bedürfnis der Künstlerin nach Selbstverwirklichung?«
Lilian runzelte die Stirn. »Wie viel?«, fragte sie dann.
Wilson fand sie hinreißend.
»Also passen Sie auf, Lilian, wir machen es so: Sie schreiben versuchsweise ein oder zwei Kapitel, und dann begleite ich Sie zu einem befreundeten Verleger. Wir werden dazu allerdings nach Wellington fahren müssen. Schaffen Sie das?«
Lilian lachte. »Was? Die Zugfahrt oder die zwei Kapitel? Letztere sind kein Problem. Und wenn ich schnell damit fertig werde, wird das Kind wohl auch nicht im Abteil kommen.«
»Darum bitte ich doch sehr!«, brummte Wilson.
Schon drei Tage später war Lilian wieder da, in ihrer ordentlichen Mappe ein Manuskript mit den ersten zwei Kapiteln und einer kurzen Zusammenfassung.
Die Herrin von Kenway Station
erzählte die Geschichte einer jungen Schottin, die sich von einem Heiratswerber nach Neuseeland locken ließ. Lilian mischte dazu die Geschichten ihrer Urgroßmütter Gwyneira und Helen. Anschaulich schilderte sie die Überfahrt und das erste Treffen mit dem reichlich düsteren Schafbaron Moran Kenway. Schließlich landete das Mädchen, umgeben von Luxus, aber eingekerkert, misshandelt und unglücklich auf einer Farm jenseits aller menschlichen Ansiedlungen. Lilian hatte nur leichte Gewissensbisse, als sie an die erste Ehe ihrer Mutter Elaine anknüpfte. Aber zum Glück hatte der Jugendfreund der Heldin sie nie vergessen. Er folgte ihr nach Neuseeland, machte in Windeseile ein Vermögen auf den Goldfeldern und eilte, das Mädchen zu befreien.
Thomas Wilson überflog den Text und rieb sich die Augen.
»Und?«, fragte Lilian, die etwas übernächtigt wirkte. Ausnahmsweise war diesmal aber weder die Liebe noch der Krach aus dem Pub daran schuld, sondern die Ekstase des Schreibens. Sie hatte kaum von ihrer Geschichte lassen können. »Wie finden Sie
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