Der Ruf der Kiwis
totenblassen und völlig übernächtigten Ben endlich zu ihr ließ.
»Galahad?«, fragte er verwirrt. »Was ist denn das für ein Name? In meiner Familie ...«
»Das ist ein Name für einen Helden!«, erklärte Lilian, verriet Ben aber sicherheitshalber noch nicht, dass sein Sohn nicht nur nach einem Gralsritter, sondern auch nach dem Retter der
Herrin von Kenway Station
getauft werden sollte. »Und wenn ich mir deine Familie so angucke ...«
Ben lachte. »Du meinst, er wird es eines Tages wagen, seiner Großmutter zu widersprechen?«
Lilian kicherte. »Womöglich schmeißt er sie aus seiner Mine!«
Während Lilian
Die Erbin von Wakanui
in die Schreibmaschine tippte, die Thomas Wilson ihr zur Geburt ihres Sohnes verehrt hatte, lag der kleine Galahad in der Wiege neben ihr, gelegentlich geschaukelt oder mit romantischen Liedern in den Schlaf gesungen. Nachts lag er zwischen seinen Eltern und verhinderte vorerst die Entstehung eines weiteren Babys. Was das anging, ließ Lilian jetzt aber auch Vorsicht walten. Ben hatte sich endlich durchgerungen, seine Kommilitonen nach sicheren Verhütungsmöglichkeiten zu fragen, und die verordneten Kondome tatsächlich gekauft. Es war zwar etwas mühsam, die dicken Gummidinger vor der Liebe überzustreifen, aber vorerst gelüstete es Lilian einfach nicht nach weiteren Begegnungen mit der feldwebelhaften Hebamme im Auckland Hospital. Ben war das recht; er war vor allem froh, der Arbeit im Hafen endlich entkommen zu sein. Die
Herrin von Kenway Station
ernährte bereits nach einem halben Jahr die ganze Familie. Lilian unterschrieb für zwei weitere Romane, Ben promovierte Anfang 1918 als einer der jüngsten Doktoranden des Britischen Empires und erhielt eine Gastdozentur in Wellington.
Lilian und Ben waren glücklich.
8
»Was tut Gloria denn nur immer bei den Maoris?«
Wieder einmal wurde Gwyneira dem Vorsatz untreu, Familienprobleme nicht mit ihrem Verwalter Maaka zu besprechen. Aber nach wie vor gab es niemand anderen, an den sie sich mit ihren Sorgen wenden konnte. Gloria redete wenig, Marama ebenso, und von Jack hatte sie nach wie vor nichts gehört. Zumindest hatte er nicht direkt geschrieben. Nur Roly O’Brien, Tim Lamberts Bursche, meldete sich gelegentlich bei Tim und Elaine, erst aus Griechenland, dann aus England. Er hatte wohl den Verwundetentransport begleitet, der Jack aus Gallipoli herausgebracht hatte, und erwähnte seinen Freund immer wieder in Nebensätzen. Am Anfang hatten die bedrohlich geklungen – »Mr. Jack schwebt immer noch zwischen Leben und Tod« –, inzwischen hieß es eher: »Mr. Jack geht es etwas besser« oder »Mr. Jack darf endlich aufstehen«. Die Hintergründe der Geschichte blieben jedoch verworren – Roly war weder ein regelmäßiger noch besonders begabter Briefeschreiber. Er war schon sehr jung als Lehrling ins Bergwerk geschickt worden und hatte vorher nur kurz die Schule besucht.
Gwyneira tröstete sich damit, dass Jack immerhin am Leben war, auch wenn er vielleicht einen Arm oder ein Bein verloren hatte. Warum er nicht selbst schrieb oder jemandem Briefe diktierte, war ihr zwar ein Rätsel, aber sie kannte ihren Sohn. Jack teilte sich ungern mit. Wenn ihn ein Schicksalsschlag traf, verschloss er sich eher in sich selbst, als viel zu reden. Auch damals, nach Charlottes Tod, hatte er wochenlang geschwiegen.
Gwyneira verletzte das, aber sie versuchte, es zu verdrängen. Gloria war im Moment das drängendere Problem – wenngleich sich die Wogen auf Kiward Station vorerst geglättet hatten. Das Mädchen rieb sich nicht mehr an den Viehhütern und stieß das Personal nicht mehr vor den Kopf. Stattdessen verschwand sie fast jeden Tag mit Pferd und Hund nach O’Keefe Station, oder sie ging zu Fuß zum Maori-Dorf am See hinunter. Wonach sich das richtete, wusste Gwyneira nicht; Gloria wechselte nur selten ein Wort mit ihr. Zu den Mahlzeiten erschien sie kaum. Sie aß bei den Maoris und schien deren gerade im Winter eher karger Kost nicht überdrüssig zu werden. Wenn die Jäger nicht erfolgreich waren, gab es kaum mehr als Süßkartoffeln und Fladen aus Getreidemehl, aber wie es aussah, zog Gloria dies jeder besseren Mahlzeit im Beisein ihrer Großmutter vor.
Nach und nach verschwanden die Zeichnungen und Spielzeuge aus ihrem Zimmer und wichen Schmuckgegenständen der Maori-Kunst – mitunter ähnlich ungelenk hergestellt wie die Artefakte aus ihrer Kindheit, woraus Gwyneira schloss, dass Gloria sich selbst im
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