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Der Ruf der Kiwis

Der Ruf der Kiwis

Titel: Der Ruf der Kiwis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Lark
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aber sie folgte den Anweisungen der weisen Frau. Kurze Zeit später lief sie zielsicher auf ihren Baum zu.
    Rongo Rongo lächelte.
     
    Gloria tat sich schwer mit ihren Erinnerungen, aber das Leben fiel ihr leichter, wenn sie sich bei ihrer Maori-Familie aufhielt. Dabei stellte auch Gwyneira keine Fragen und versuchte erkennbar, sich mit Kritik an ihrer Urenkelin zurückzuhalten. Aber Gloria meinte, Missbilligung in ihren Augen zu sehen und Vorwürfe in ihrer Stimme zu hören.
    Marama schüttelte den Kopf, als sie ihr das anvertraute. »Deine Augen und Miss Gwyns Augen sind sich gleich. Und eure Stimmen sind verwechselbar ...«
    Gloria wollte einwenden, dass dies Unsinn sei. Sie selbst hatte porzellanblaue Augen, Gwyneiras zeigten immer noch das faszinierende Azurblau, das sie ihrer Enkelin Kura vererbt hatte. Auch die Stimmen der Frauen hatten wenig gemeinsam – Gwyneiras war deutlich höher als Glorias. Aber sie hatte längst gelernt, dass man Maramas Äußerungen nicht wörtlich nehmen durfte.
    »Du wirst es schon noch verstehen«, meinte Rongo gelassen, als Gloria bei ihr darüber klagte. »Lass dir Zeit ...«
     
    »Lass ihr Zeit«, sagte Marama mit ihrer singenden Stimme. Sie saß Gwyneira im 
wharenui
, dem Versammlungshaus ihres Dorfes, gegenüber. Gewöhnlich hätte sie ihre Schwiegermutter formlos draußen empfangen, aber es regnete in Strömen. Immerhin kannte Gwyneira die Etikette. Sie hatte das 
karanga
, das Begrüßungsritual vor dem Betreten eines Versammlungshauses, ohne Schwierigkeiten gemeistert, ohne besondere Aufforderung die Schuhe ausgezogen und nicht über ihre arthritischen Knochen geklagt, als sie sich auf dem Boden niederließ.
    »Warum willst du sie denn nicht gehen lassen? Bei uns passiert ihr nichts.«
    Anlass für Gwyneiras Besuch war die letzte »verrückte Idee« ihrer Urenkelin Gloria. Der Maori-Stamm plante eine Wanderung, und Gloria bestand darauf, sich ihm anzuschließen.
    »Das weiß ich ja. Aber sie soll sich doch auf Kiward Station wieder einleben! Und das kann sie nicht, wenn sie jetzt monatelang mit euch herumzieht. Marama, wenn es wirtschaftliche Gründe sind ...«
    »Wir brauchen keine Almosen!« Es war selten, dass Marama die Stimme erhob, aber Gwyneiras letzte Worte verletzten ihren Stolz. Tatsächlich hatte es meistens praktische Gründe, wenn die Stämme der Südinsel wanderten. Sie taten das deutlich öfter als die Maoris der Nordinsel, deren Heimat bessere Bedingungen für ihre einfache Landwirtschaft bot. Auf der Südinsel waren die Erträge oft gering, und wenn die Vorräte im Frühjahr zur Neige gingen, machte man sich auf den Weg, um ein paar Monate von Jagd und Fischfang zu leben.
    Marama und ihre Leute hätten allerdings nicht von »Not« gesprochen. Das Land bot ja genügend Nahrung. Nur nicht da, wo man sich gerade aufhielt. Also reiste man der Nahrung nach, ein Abenteuer und zumindest für die Jüngeren des Stammes auch ein Vergnügen. Zudem hatten die Wanderungen spirituelle Aspekte. Man näherte sich dem Land an, wurde eins mit den Bergen und Flüssen, die einem Nahrung und Obdach boten. Die Kinder lernten weiter entfernte, spirituell wichtige Plätze kennen, man erneuerte die Bindung zu Te waka a Maui.
    Gwyneira biss sich auf die Lippen. »Ich weiß ja, aber ... Was ist mit Wiremu, Marama? Maaka sagt, sie spricht mit ihm ...«
    Marama nickte. »Ja. Das ist mir auch aufgefallen. Er ist der einzige Mann, mit dem sie gelegentlich spricht. Letzteres finde ich bedenklich, Ersteres nicht.«
    Gwyneira atmete tief durch. Es fiel ihr erkennbar schwer, ruhig zu bleiben. »Marama! Du kennst Tonga. Dies ist keine Einladung zu einem Spaziergang mit dem Stamm, das ist eine Brautwerbung. Er will Gloria mit Wiremu verkuppeln!«
    Marama zuckte die Achseln. In ihrer gelassenen Haltung erinnerte sie auch heute noch an das Mädchen von damals, das seine eigene Liebe und Paul Wardens anfängliche Ablehnung so selbstverständlich hinnahm wie einen Sommerregen.
    »Wenn Gloria Wiremu liebt, wirst du die beiden nicht trennen. Wenn sie Wiremu nicht liebt, wird Tonga sie nicht verheiraten. Er kann sie nicht zwingen, einander im Gemeinschaftshaus beizuliegen. Also, überlass es Gloria!«
    »Das kann ich nicht! Sie ... sie ist die Erbin! Wenn sie Wiremu heiratet ...«
    »Dann gehörte das Land immer noch nicht Tonga und dem Stamm, sondern Glorias und Wiremus Kindern. Vielleicht erweisen die sich als die ersten Viehbarone mit Maori-Blut. Vielleicht geben sie das Land an den Stamm

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