Der Ruf der Kiwis
zurück. Du wirst das nicht mehr erleben, Miss Gwyn, und Tonga auch nicht. Aber die Berge werden noch stehen, und der Wind wird mit den Wipfeln der Bäume spielen ...« Marama machte eine Geste der Unterwerfung unter die Macht der Götter.
Gwyneira seufzte und spielte mit ihrem Haar. Sie trug es streng aufgesteckt, wie es ihrem Alter zukam, aber wie immer, wenn sie sich aufregte, lösten sich viele kleine Strähnen. Gwyneira war niemals gleichmütig gewesen. Und jetzt spürte sie den innigen Wunsch, irgendetwas zu zerschlagen. Am liebsten Tongas gehütetes Häuptlingsbeil, das Insigne seiner Macht.
»Marama, ich kann das nicht zulassen. Ich muss ...«
Marama gebot ihr mit einer anmutigen Geste Schweigen. Erneut wirkte sie strenger als sonst.
»Gwyneira McKenzie«, sagte sie fest. »Ich habe dir beide Kinder überlassen. Erst Kura, dann Gloria. Du hast sie nach Art der
pakeha
erzogen. Und sieh, was daraus erwachsen ist!«
Gwyneira funkelte sie an. »Kura ist glücklich!«
»Kura ist eine Wandernde im fremden Land ...«, flüsterte Marama. »Ohne Halt. Ohne Stamm.«
Gwyneira war davon überzeugt, dass Kura dies gänzlich anders sah, doch aus der Sicht der Vollblut-Maori Marama, die mit und durch ihr Land lebte, war ihre Tochter verloren.
»Und Gloria ...« Gwyneira brach ab.
»Lass Gloria gehen, Gwyn«, sagte Marama sanft. »Mach nicht noch mehr Fehler.«
Gwyneira nickte resigniert. Sie fühlte sich plötzlich alt. Sehr alt.
Marama drückte zum Abschied ihre Stirn und ihre Nase gegen Gwyneiras Gesicht. Sie gestaltete die Geste sehr viel inniger und tröstlicher als sonst bei der routinemäßigen Begrüßung.
»Ihr
pakeha
...«, murmelte sie. »Alle eure Straßen sollen eben und gerade sein. Ihr ringt sie dem Land ab, ohne sein Stöhnen zu hören. Dabei sind die verschlungenen, steinigen Wege oft die kürzeren, so man sie in Frieden geht ...«
Gloria folgte Marama durch das kniehohe, tropfnasse Gras. Es regnete seit Stunden unausgesetzt, und selbst Nimue verlor langsam den Spaß an dem langen Spaziergang. Die Männer und Frauen des Stammes wanderten stoisch voran, in sich selbst versunken. Das Lachen und Plaudern, mit dem sie sich sonst die Zeit der Wanderung vertrieben, war längst verebbt. Gloria fragte sich, ob sie die Einzige war, die sich nach einem trockenen Quartier sehnte, oder ob die anderen irgendein Wissen oder Gemeinschaftsgefühl stärkte, das sie selbst nicht empfinden konnte. Nach drei Tagen Marsch bei weitgehend feuchter Witterung hatte sie fast schon genug von ihrem Abenteuer. Dabei hatte sie sich auf die Wanderung gefreut, den Aufbruch herbeigesehnt, seit Gwyneira endlich ihre Zustimmung gegeben hatte. Gloria hätte dies als Triumph werten wollen, doch ihre Urgroßmutter hatte dabei so traurig, alt und verletzt gewirkt, dass sie beinahe geblieben wäre.
»Ich lasse dich gehen, weil ich dich nicht verlieren will«, hatte Gwyneira gesagt – ein Satz, wie man ihn sonst eher von Marama hörte. »Ich hoffe, du findest, was du suchst.«
Das Zusammenleben war von da an noch schwieriger geworden. Gloria versuchte, ihren Zorn und ihre Ablehnung zu nähren, aber sie hatte eher ein schlechtes Gewissen. Es ärgerte sie, dass sie wieder wie ein Kind empfand.
Schließlich ließ sie sich zum Abschied zwar nicht umarmen, tauschte aber einen innigen
hongi
mit Gwyneira aus, eigentlich die intimere Geste. Sie spürte Gwyneiras faltige, trockene, aber doch warme Haut und ihren Duft nach Honig und Rosen. Diese Seife hatte sie schon verwendet, als Gloria noch klein gewesen war; sie erinnerte sich an tröstliche Umarmungen. Jack dagegen hatte nach Leder und Huffett gerochen. Warum nur dachte sie jetzt an Jack?
Letztendlich hatte Gloria aufgeatmet, als es endlich losging, und die ersten Stunden der Wanderung waren auch schön gewesen. Sie lachte mit den anderen, fühlte sich frei und offen für neue Eindrücke – aber auch geborgen im Schutz ihres Stammes. Wie die Tradition es wollte, gingen die Frauen und Kinder in der Mitte der Gruppe, die Männer flankierten sie. Sie trugen ihre Speere und Jagdausrüstung bei sich; die Frauen schleppten die sehr viel schwereren Zeltplanen und Kochpfannen. Nach ein paar Stunden begann Gloria sich zu fragen, ob das gerecht war.
»Aber sie müssen sich bewegen können!«, erklärte ihr Pau. »Wenn jemand uns angreift ...«
Gloria verdrehte die Augen. Sie befanden sich immer noch auf dem Gelände von Kiward Station. Und auch später, in den McKenzie
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