Der Ruf der Kiwis
Lily war nicht viel talentierter als Gloria, aber die Musikstunden machten ihr Spaß, und das ging den meisten anderen Mädchen ähnlich. Gut, in den Einzelstunden zwecks Beherrschung eines Musikinstruments wurde man gequält, aber Chorsingen zum Beispiel mochten alle bis auf Gloria. Allerdings musste auch keine andere Schülerin in der ersten Stunde eine vergleichbare Tortur erleben wie die Tochter Kura-maro-tini Martyns.
Gloria schwante schon etwas, als Miss Wedgewood, die Chorleiterin, sie als eine der Ersten zum Vorsingen aufs Podium rief.
»Die Tochter der berühmten Mrs. Martyn!« Miss Wedgewood bekam strahlende Augen. »Ich habe mich so auf dich gefreut. Unser Alt ist ein bisschen schwach besetzt, und wenn du auch nur halbwegs die Stimme deiner Mutter mitbringst, solltest du ihn wesentlich unterstützen! Singst du uns mal ein A?«
Sie schlug den Ton auf dem Klavier an, und Gloria versuchte, ihn nachzusingen. Das hatten vor ihr schon drei andere Mädchen mit mäßigem Erfolg probiert, woraufhin sie Miss Wedgewood mit leisem Seufzen verschiedenen Chorstimmen zugeordnet hatte. Aber keine Stimme hatte so gepresst geklungen wie Glorias, der es schon peinlich war, allein vor der Klasse und am Klavier zu stehen. Die Anspielung auf ihre Mutter gab ihr dann den Rest. Gloria brachte keinen Ton mehr heraus, erst recht keinen richtigen. Dabei hatte sie eine kräftige und wohlklingende Stimme. Aber das Mädchen traute sich nicht zu, auch nur das einfachste Lied richtig singen zu können, und ganz allein auf dem Podium versank sie ohnehin fast im Boden.
»Also wirklich, von deiner Mutter hast du ja gar nichts!«, meinte Miss Wedgewood schließlich enttäuscht und versenkte Gloria in die letzte Reihe. Dahin hatte es auch Gabrielle verschlagen, die von jetzt an keine Chance ungenutzt ließ, alle Fehler auf Gloria zu schieben. Wann immer der Alt etwas falsch intonierte, lag das angeblich daran, dass Gloria die anderen irritierte. Dabei sang sie meist so leise, dass ihre Mitschülerinnen sie ohnehin kaum hören konnten. Die Einzige, die sie vielleicht verteidigt hätte, war Lilian. Und die sang – laut und falsch – in der ersten Stimme mit.
Überhaupt half es Gloria nicht weiter, dass Lilian theoretisch die Schulbank mit ihr teilte. Die Mädchen waren gänzlich unterschiedlichen Klassen und Kursen zugeteilt, sie trafen sich nur beim Chorgesang und in den Pausen im Garten. Aber dort war Lilian schon nach den ersten Tagen umgeben von anderen Mädchen. Sie hatte gleich Freundinnen, mit denen sie herumalberte, und auch wenn sie Gloria nicht ausschloss, sondern im Gegenteil freudig in ihrem Kreis begrüßte, fühlte das Mädchen sich doch fehl am Platze. Die Unterstufenschülerinnen betrachteten sie als Vertreterin der Mittelstufe mit einer Mischung aus Bewunderung, Neid und Vorsicht. Zwischen den einzelnen Häusern in Oaks Garden herrschte Rivalität; man besuchte sich nicht gegenseitig, es sein denn, man wollte einander Streiche spielen. Das lag Gloria natürlich fern, aber unabsichtlich sorgte sie dann doch für Ärger im Westflügel, als Lilian sie zu einer Mitternachtsparty einlud. Gloria schlich sich weisungsgemäß hinüber und genoss es sogar fast, im Kreis der jüngeren Mädchen Kuchen zu knabbern und Limonade zu trinken. Lilian unterhielt sie dabei mit den gleichen wilden Geschichten, die Gloria auch schon auf Kiward Station fasziniert hatten, und schließlich lachte und schwatzte sie fast normal mit Lilians Freundinnen. Aber natürlich erwischten Gabrielle und ihre anderen Zimmergenossinnen sie bei der Rückkehr, erpressten in Windeseile ein Geständnis von ihr und verpfiffen Lilian umgehend bei der Hausmutter. Miss Barnum ertappte die Mädchen beim Aufräumen nach der Party, und es regnete Strafmaßnahmen. Und natürlich machte man Gloria für den traurigen Ausgang der Feier verantwortlich.
»Ich glaub’s dir ja!«, meinte Lilian mitleidig. Die Mädchen trafen sich beim »Strafexerzieren« im Garten. Bestrafungen in Oaks Garden bestanden in stundenlangen Spaziergängen, gewöhnlich im Regen. Eigentlich durften sie dabei nicht reden, doch Lily dazu zu bringen, den Mund zu halten, war ein Ding der Unmöglichkeit. »Diese Gabrielle ist ein Biest! Aber die anderen wollen dich jetzt natürlich nicht mehr dabeihaben. Tut mir ehrlich leid!«
Gloria blieb also weiter allein und deshalb auch gänzlich auf das Internatsleben beschränkt. Lilian ging es auch hier besser. Fast jedes Wochenende wurde sie von einer ihrer
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