Der Ruf der Kiwis
Sachen zeichnen, Kunst sollte Schönes abbilden. Gabrielle hat eine Zwei bekommen, weil sie eine Blume gemalt hat. Aber die sah gar nicht aus wie eine richtige Blume ...«
Sarah Bleachum seufzte. Gloria schien durchaus nicht untalentiert zu sein, doch künstlerische Verfremdung würde ihr immer unverständlich bleiben.
»Aber das weiß Miss Blake-Sutherland wahrscheinlich gar nicht«, führte Gloria weiter aus. »Botanik unterrichten sie in England nämlich gar nicht, und Tierkunde auch nicht, jedenfalls nicht viel. Erdkunde ist langweilig, was wir da machen, ist was für Babys. Und Latein gibt es nicht, dafür Französisch ...«
»Aber Französisch haben wir doch auch gelernt«, meinte Sarah mit schlechtem Gewissen. Sie hatte erst vor gut einem Jahr begonnen, Gloria in der Sprache zu unterrichten. In Oaks Garden hatten die Mädchen wahrscheinlich von der ersten Klasse an Französischstunden.
Gloria bestätigte das. Sie lag hoffnungslos zurück. Das aber brachte Sarah Bleachum auf eine Idee.
»Vielleicht könnte ich dir Nachhilfestunden geben«, schlug sie vor. »Am Samstag oder am Sonntagnachmittag. Würde dir das gefallen, oder wird es dir zu viel?«
Gloria strahlte. »Das wäre wundervoll, Miss Bleachum!« strahlte sie. Ein Wochenendnachmittag, an dem sie Gabrielle und Fiona entfliehen konnte, erschien ihr als Himmel auf Erden. »Sie können an Grandma Gwyn schreiben, wegen der Bezahlung.«
Sarah schüttelte den Kopf. »Das mache ich doch gern, Glory. Wir müssen nur mit Miss Arrowstone sprechen. Wenn sie es nicht erlaubt ...«
Obwohl Christopher abriet, machte Sarah sich gleich am nächsten Tag auf den Weg zum Internat und stürzte sich in den Kampf mit Miss Arrowstone. Die Rektorin war zunächst gar nicht erbaut von ihrem Vo r s c h l ag .
»Miss Bleachum, wir waren uns doch einig, dass das Mädchen sich eher abnabeln muss. Gloria fällt hier als eigenbrötlerisch auf, sie kommt mit ihren Klassenkameradinnen nicht zurecht, und sie verweigert sich dem Lehrstoff. Mitunter sind ihr die Unterrichtsinhalte sicherlich fremd, aber manchmal ist sie auch einfach renitent! Die Lehrerin in Biblischer Geschichte brachte sie neulich zu mir, weil sie in einem Aufsatz darwinistisches Gedankengut vertrat! Statt über die Erbsünde schrieb sie etwas über die Entstehung der Arten! Ich habe sie scharf gerügt und eine Strafe ausgesprochen.«
Sarah wurde rot.
»Das Mädchen ist völlig weltfremd aufgewachsen!«, erklärte Miss Arrowstone mit allen Anzeichen der Empörung. »Und daran sind Sie zweifellos nicht ganz unschuldig. Aber gut, die Kleine ist auf dieser Schaffarm gewiss verwildert. Das bisschen Hausunterricht kam dagegen wahrscheinlich kaum an. Zumal die Familienverhältnisse da unten in Neuseeland ... ist es wahr, was Lilian erzählt? Der Großvater war tatsächlich ein Viehdieb?«
Sarah Bleachum musste lächeln. »Lilians Urgroßvater«, stellte sie richtig. »Gloria ist mit James McKenzie nicht verwandt.«
»Aber sie ist doch in der Familie dieses zweifelhaften Volkshelden aufgewachsen, oder? Das alles ist sehr undurchsichtig ... Und wer ist dieser ›Jack‹?« Während sie sprach, zog Miss Arrowstone ein Blatt Briefpapier aus ihrer Schreibtischschublade.
Sarah erkannte Glorias große, etwas steile Schrift und geriet sofort in Harnisch.
»Lesen Sie etwa die Briefe der Mädchen?«, fragte sie empört.
Miss Arrowstone sah sie strafend an. »Nicht grundsätzlich, Miss Bleachum. Dieser hier allerdings ...«
Die Schülerinnen von Oaks Garden wurden angehalten, regelmäßig nach Hause zu schreiben. Die letzte Schulstunde am Freitagnachmittag war dafür reserviert. Man teilte Briefpapier aus, und es gab eine Aufsicht, die nicht nur auf Ruhe hielt, sondern auch Fragen bezüglich der richtigen Schreibweise schwieriger Wörter beantwortete. Dies war natürlich besonders bei den jüngeren Jahrgängen nötig: Mädchen wie Lilian Lambert schrieben aufgeregt und ohne Punkt und Komma. In Glorias Klasse verliefen die Schreibstunden dagegen meist ruhig. Die Mädchen lieferten ihre Berichte gelassen ab. Viel zu erzählen hatten die wenigsten, aber natürlich hatten sie gelernt, kleine Ereignisse – eine gute Note für eine Zeichnung zum Beispiel, oder ein neues Übungsstück im Geigenunterricht – zu Höhepunkten aufzubauschen.
Gloria dagegen saß sprachlos vor ihrem Blatt Papier. So sehr sie sich Mühe gab, formierten sich doch keine Worte in ihrem Kopf, die ihr Elend beschrieben. Allenfalls stiegen die
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