Der Ruf der Kiwis
ihre mütterlichen Qualitäten begeistern. Schließlich erntete Christopher Zustimmung von allen Seiten.
»Im nächsten Bibelkreis liest du dann mit ihnen das Magnificat und sprichst darüber, wie die Jungfrau gesegnet wurde«, wies er Sarah gut gelaunt an. »Das ist auch nicht so lang wie die ganzen Bibelgeschichten. Die Frauen wollen ja noch über etwas anderes reden.«
Tatsächlich wurde im Bibelkreis mehr geklatscht als gebetet, wobei der Reverend ein beliebtes Thema war. Sämtliche Frauen schwärmten für ihn und schilderten Sarah seine Wohltaten für die Gemeinde in den höchsten Tönen.
»Sie werden ihm aber sicher auch eine gute Frau sein!«, meinte Mrs. Buster, Sarahs Hauswirtin, schließlich gönnerhaft. Christopher hatte sie bei der ältlichen Witwe einquartiert, und das Zimmer war tatsächlich sauber und bequem. Allerdings ließ Mrs. Buster ihrem Hausgast wenig Privatsphäre. Wenn sie reden wollte, musste Sarah zur Verfügung stehen. Die junge Frau rettete sich schließlich in lange Spaziergänge – meistens im Regen.
Ernsthafte Differenzen zwischen Sarah und der Gemeinde kamen allerdings erst auf, als Christopher die Lehrerin mit der Leitung der Sonntagsschule betraute. Sarahs Liebe galt nun einmal der Naturwissenschaft, und es gehörte zu ihren tiefsten pädagogischen Überzeugungen, die Fragen der Schüler stets wahrheitsgetreu zu beantworten.
»Was hast du dir bloß dabei gedacht?«, fragte Christopher aufgebracht, nachdem Sarahs erste Kinderstunde wütende Proteste der Eltern nach sich zog. »Du erzählst den Kindern, wir stammen vom Affen ab?«
Sarah zuckte die Schultern. »Billy Grant wollte wissen, ob Gott wirklich alle Tiere in sechs Tagen geschaffen hat. Und diese Theorie hat Charles Darwin nun mal widerlegt. Ich habe ihm also erklärt, dass in der Bibel eine sehr schöne Geschichte steht, die uns hilft, das Wunder der Schöpfung besser zu begreifen. Aber dann habe ich den Kindern erklärt, wie es wirklich war.«
Christopher raufte sich die Haare. »Das ist keineswegs erwiesen!«, entrüstete er sich. »Und wenn es zehnmal deine Überzeugung ist, es gehört nicht in eine christliche Sonntagsschule. Sei in Zukunft vorsichtiger, was du den Kindern erzählst! Wir sind hier nicht am Ende der Welt, wo defätistisches Gedankengut vielleicht geduldet wird ...«
Sarah mochte es nicht zugeben, aber je länger sie sich als künftige Pfarrersfrau versuchte, desto häufiger sehnte sie sich an eben dieses Ende der Welt zurück. Bislang hatte sie sich immer für eine gute Christin gehalten, aber langsam wuchs ihre Befürchtung, dass das hier nicht genügte. Es sah aus, als fehle es ihr an Glaubensfestigkeit – und ganz sicher reichte ihre Nächstenliebe nicht aus, sich täglich mit den zum Teil kleinlichen und oft eingebildeten Sorgen der Gemeindemitglieder zu befassen. Der Umgang mit Kindern hatte sie mehr befriedigt. Und die kleine Gloria schien unter echten Problemen zu leiden.
Trotz Christophers deutlich gezeigter Ungeduld – nach dem Sonntagsgottesdienst waren er und Sarah meist bei einem Gemeindemitglied zum Essen eingeladen, und er mochte nicht unpünktlich sein – zog sie sich wenigstens kurz mit dem Mädchen zurück und ließ Gloria erzählen. In schönster Eintracht flohen die beiden auf den Friedhof hinter der Kirche. Kein sehr einladender Ort, aber doch ein Platz, um allein zu sein. Sarah mochte vor sich selbst noch nicht zugeben, was Gloria längst wusste: Beide waren ständig verzweifelt auf der Suche nach solchen Plätzen zum Rückzug.
»Ich bekomme nur schlechte Noten, Miss Bleachum«, klagte Gloria, wohl in der Meinung, dies müsse die Lehrerin mehr interessieren als die täglichen Quälereien der boshaften Gabrielle. »Ich kann nun mal nicht singen und Noten lesen. Für mich klingt das alles gleich. Und zeichnen kann ich auch nicht so gut, obwohl ... vor ein paar Tagen hab ich einen Frosch gesehen, einen grasgrünen, Miss Bleachum, mit winzigen Saugnäpfen an den Füßchen, und den hab ich abgezeichnet. So wie mein Urgroßvater Lucas. Erst ein großes Bild von dem Frosch und dann ein kleines von den Füßen. Gucken Sie mal, Miss Bleachum!« Stolz beförderte Gloria eine schon leicht verschmierte Kohlezeichnung hervor, und Sarah war beeindruckt. Der Unterricht im perspektivischen Zeichnen schien durchaus auf fruchtbaren Boden zu fallen; das Mädchen hatte das Tier erstaunlich lebensecht abgebildet.
»Aber Miss Blake-Sutherland meint, das wäre eklig. Ich soll keine ekligen
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