Der Ruf der Kiwis
lächelnd. »Natürlich schreibt sie. Die Mädchen werden dazu angehalten. Jeden Samstagnachmittag sollen sie nach Hause schreiben ... was Lily nicht viel ausmacht, sie hat ja immer viel zu erzählen. Wobei ich mich frage, wie sie die Briefe durch die Zensur schmuggelt. Die Lehrerinnen werden doch immer wieder Stichproben machen, oder?«
Sie wandte sich an Charlotte. Die zuckte die Achseln.
»Eigentlich achten sie das Briefgeheimnis. Zumindest bei den Älteren und in der Schule, die ich besucht habe«, gab sie Auskunft. »Aber bei den Kleinen werden schon mal Rechtschreibkorrekturen gemacht.«
»Was schreibt Lilian denn Subversives?«, fragte Jack beunruhigt. »Ist sie nicht glücklich?«
Elaine lachte. »Doch. Aber ich fürchte, dass Lilys Vorstellung von Glück und die ihrer Lehrerinnen nicht immer ganz übereinstimmen. Hier, lies selbst!«
Sie zog Lilians letzten Brief aus einer Tasche ihres Kleides. Ein Beweis dafür, wie sehr sie ihre Tochter vermisste. Elaine pflegte Lilians Briefe mit sich herumzutragen und immer wieder zu lesen, bis die nächsten eintrafen.
»Lieber Mummy, lieber Daddy, liebe Brüder«, las Jack vor. »Ich habe eine schlechte Note in der Englischarbeit, in der wir eine Geschichte von Mr. Poe nacherzählen sollten. Sie war aber so traurig, da habe ich sie anders ausgehen lassen. Das war wohl falsch. Mr. Poe hat manchmal ziemlich traurige Geschichten geschrieben, und auch ganz unheimliche. Dabei gibt es doch gar keine Gespenster. Ich weiß das, denn ich war letztes Wochenende mit Amanda Wolveridge auf Bloomingbridge Castle. Ihre Familie hat ein richtiges Schloss, und da soll ein Geist spuken, aber Amanda und ich sind die ganze Nacht aufgeblieben und haben keinen Geist gesehen. Nur ihren blöden Bruder unter einem Bettlaken. Außerdem sind wir auf Amandas Ponys geritten, und es hat viel Spaß gemacht. Mein Pony war das schnellste. Rube, kannst du mir wohl eine Weta schicken? Letzte Woche haben wir eine Spinne in die Landkarte gesteckt, die Miss Comingden-Proust ausrollen musste. Sie hat sich furchtbar erschreckt und ist auf einen Stuhl gesprungen. Wir konnten ihre Unterhosen sehen. Mit einer Weta ginge das bestimmt noch besser, weil Wetas ja manchmal hinterherspringen ...«
Charlotte kicherte, als wäre sie selbst noch ein kleines Mädchen, das seinen Lehrerinnen Streiche spielte. Neuseeländische Rieseninsekten würden in englischen Schulzimmern sicher interessante Wirkungen erzielen.
Auch Jack lachte, allerdings etwas beklommen. Dieser Brief war entzückend; man meinte geradezu, die kleine Lilian plaudern zu hören. Verglichen damit wirkten Glorias Briefe fast gespenstisch. Trockene Berichte von Unternehmungen, denen das Mädchen zu Hause nicht das Geringste hatte abgewinnen können. Er musste versuchen, da nachzuhaken. Nur hatte er keine Idee, wie man das am besten anstellte.
6
Gloria hasste jede Sekunde in Oaks Garden, und es schien sich alles gegen sie verschworen zu haben.
Das fing mit ihren gehässigen Zimmergenossinnen an, die kein gutes Haar an ihr ließen. Vielleicht neideten sie ihr die berühmte Mutter, aber womöglich suchten sie einfach nur einen geeigneten Sündenbock, an dem sie jeden Ärger abreagieren konnten. Gloria wusste es nicht, und sie stellte auch keine tiefschürfenden Überlegungen darüber an. Vor allem aber schaffte sie es nicht, den Hohn und Spott der Mädchen mit gleicher Münze heimzuzahlen – ebenso wenig, wie sie das alles ignorieren konnte. Schließlich wusste sie ja selbst, dass sie nicht hübsch war und in der Schulkleidung linkisch wirkte. Und ihre Dummheit und Talentlosigkeit wurden ihr jeden Tag in Oaks Garden gnadenlos vor Augen geführt.
Nun war die Schule – auch wenn sie ihren pädagogischen Schwerpunkt auf Förderung der schönen Künste legte – nicht gerade ein Hort kreativer Talente. Die meisten anderen Schülerinnen klecksten ebenso unbeholfen Farbe auf Leinwände wie Gloria und schafften es nur mit viel Hilfe, ein Haus oder einen Garten halbwegs perspektivisch korrekt zu zeichnen. Gabrielle Wentworth spielte grauenhaft Geige, und Melissas Cellospiel war nicht viel besser. Die wenigsten Mädchen hatten wirklich eine künstlerische Ader, bestenfalls begeisterten sie sich für Musik oder Malerei. Lilian Lambert zum Beispiel hatte keinerlei Hemmungen, ihrer künftigen Musiklehrerin »
Annabell Lee
« auf dem Klavier vorzuspielen und wunderte sich dann, dass Miss Tayler-Bennington darüber nicht in Begeisterungsstürme ausbrach.
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