Der Ruf der Kiwis
Freundinnen eingeladen, den Samstag und Sonntag mit ihrer Familie zu verbringen. Zwar kamen die Schülerinnen von Oaks Garden aus ganz England, aber etwa die Hälfte wohnte in der Nähe und lud die Auswärtigen gerne ein. So war es meist nur ein Häufchen Ausgestoßener, die auch das Wochenende im Internat verbrachten. Besondere Unterhaltungsangebote gab es nicht für sie. Die Mädchen waren somit durchweg mürrisch, und zumindest Gabrielle und Fiona – die es ebenfalls oft traf, da sie eng befreundet waren, aber beide von auswärts kamen – ließen ihre schlechte Laune gern an Gloria aus.
Immerhin schickte man die Mädchen am Sonntag zum Gottesdienst, und Gloria traf Miss Bleachum – der einzige Lichtblick in der ganzen Woche. Allerdings wirkte auch die junge Gouvernante nicht sonderlich glücklich. Gloria war verdutzt, sie am ersten Sonntag in Sawston an der Orgel zu sehen.
»Ich wusste gar nicht, dass Sie spielen können«, meinte sie schüchtern, als sie nach dem Gottesdienst endlich zusammentrafen. »Haben Sie Grandma Gwyn nicht gesagt, Sie gäben keine Musikstunden?«
Sarah Bleachum nickte. »Glory, mein Schatz, wenn du auch nur ein bisschen Gehör hättest, könntest du nachvollziehen, warum!«, scherzte sie, hielt dann aber inne, als Glorias Gesicht sich schmerzlich verzerrte. Auf Kiward Station hatte man Glorias mangelnde Musikalität als gegeben hingenommen – und teilweise sogar begrüßt! Niemand hatte sich je etwas dabei gedacht, das Mädchen deswegen zu necken, und Gloria hatte mitgelacht. Aber jetzt schien Sarahs lachende Selbstkritik das Mädchen mehr zu treffen als früher jeder Tadel für nachlässig erledigte Aufgaben.
»Ich hab’s nicht böse gemeint, Glory«, entschuldigte sich Sarah denn auch sofort. »Was ist denn mit dir? Hast du Ärger in der Schule, weil du genauso unbegabt bist wie ich?«
Gloria kämpfte mit den Tränen. »Sie sind doch nicht unbegabt! Sie spielen sogar in der Kirche!«
Sarah seufzte. Über ihren Auftritt in der Dorfkirche hatte es einige Diskussionen mit Christopher gegeben. Bislang hatte Miss Tayler-Bennington, die Musiklehrerin von Oaks Garden, am Sonntag die Orgel gespielt, und natürlich machte sie es viel besser als Sarah, der das nicht lag. Christopher bestand jedoch darauf, dass Sarah sich in die Gemeinde »einbrachte«, wie er es nannte. Er stellte sie allgemein als seine Cousine vor, doch der Dorfklatsch rankte sich natürlich um ihre bevorstehende Eheschließung. Fast jede Frau, mit der Sarah in Kontakt kam, sprach sie mehr oder weniger direkt darauf an – und hatte auch schon Ideen, wie sich die künftige Frau Pastor in der Gemeinde nützlich machen konnte. Sarah übernahm brav Bibelkreis und Sonntagsschule, aber trotz ihrer unbestreitbaren pädagogischen Talente traf ihr Engagement nicht auf Gegenliebe.
»Sarah, meine Liebe, die Frauen beschweren sich«, erklärte Christopher gleich nach der zweiten Woche. »Du machst ja eine Wissenschaft aus unserer Bibelstunde. All diese Geschichten aus dem alten Testament – muss das denn sein?«
»Ich dachte, ich lese mal Bibeltexte mit ihnen, in denen Frauen vorkommen«, rechtfertigte sich Sarah. »Und da gibt es im alten Testament nun mal die schönsten.«
»Die schönsten? Wie die von Deborah, die mit einem Feldherrn in die Schlacht zieht? Und die von Jael, die ihren Feind mit einem Zeltpflock umbringt?« Christopher schüttelte den Kopf.
»Na ja, die Frauen im Alten Testament waren ein bisschen ... hm ... tatkräftiger als die im Neuen«, gab Sarah zu. »Aber sie erreichen ja auch eine Menge. Esther zum Beispiel ...«
Christopher runzelte die Stirn. »Sag mal, Sarah, sympathisierst du mit den Suffragetten? Das hört sich ziemlich aufrührerisch an.«
»Es ist die Bibel«, bemerkte Sarah.
»Aber da gibt es doch auch schönere Stellen!« Christopher legte salbungsvoll die Hände auf das Neue Testament – und bewies Sarah gleich in der nächsten Sonntagspredigt, wie er sich die Behandlung des Themas »Frau und Bibel« vorstellte.
»Edler als die köstlichste der Perlen ist eine tugendhafte, gute Frau!«, begann er seinen Vortrag, streifte nur kurz die Verfehlungen Evas, um dann jenen Mann zu preisen, der ein gutes Weib sein Eigen nennen konnte. »Die Anmut des Weibes erquickt den Mann, ihre Klugheit ist ein Labsal seinen Gliedern!«
Die Frauen in der Gemeinde erröteten wie auf ein geheimes Kommando, genossen aber das Lob und ließen sich gleich darauf für Marias Ergebung in den Willen des Herrn und
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