Der Ruf der Pferde
Demnächst wird im Übrigen die Saison für Rehböcke wieder beginnen und ich hoffe auf einige gute Abschüsse...«
Angewidert warf Ethan den Brief auf den Tisch.
Sein Zimmergenosse blickte von seinem Buch auf. »Schlechte Nachrichten?«
»Nein, nein, Tom«, gab Ethan bitter zurück. »Mein Vater informiert mich nur darüber, dass St. Andrews näher rückt.«
»Mann, das ist doch toll!« Tom klappte sein Buch zu. »Ich wollte, ich hätte auch schon einen Studienplatz. Aber bei meinen Noten . . .«
»Ich glaube kaum, dass du dich darum reißen würdest, nach St. Andrews zu gehen.«
»Na ja, ist ja vielleicht nicht gerade der coolste Laden im Land, aber wenn’s dein Daddy zahlt... Kostet ja ein paar Pfund, die Sache. Allerdings befindest du dich dafür dann in bester Gesellschaft – nicht so wie in meiner.« Tom grinste über das ganze sommersprossige Gesicht. »Die Crème de la Crème ist dort vertreten. Prinz William war auch da, hab ich gehört.«
»Scheiß auf Prinz William«, sagte Ethan und seine großen dunklen Augen blitzten vor Zorn. »Ich hab einfach keine Lust auf so einen verstaubten Nobelbunker, wo sogar die Küchenhilfen aus adeligem Hause sind. Und ich hab noch weniger Lust auf Betriebswirtschaft. Das ist nämlich der Studiengang, für den mich mein Vater dort angemeldet hat. Ich bin siebzehn und er behandelt mich immer noch wie ein kleines unmündiges Kind. Er hat mich noch nicht einmal nach meiner Meinung gefragt!«
»Autsch«, sagte Tom. »Das ist natürlich übel. Du wolltest sicher was mit Computern machen, oder?« Er warf einen Blick auf die Stapel CDs, Bücher und Fachzeitschriften zu diesem Thema, die überall in Ethans Zimmerhälfte herumlagen.
»Informatik.« Ethan wischte wütend den Brief seines Vaters vom Tisch. »Aber das kommt für meinen Vater gar nicht infrage. Er sagt, ich würde später die Whisky-Destillerie übernehmen und deshalb muss ich Betriebswirtschaft studieren, basta.«
Tom blickte ihn mitleidig an. Er teilte seit zwei Jahren das Zimmer im Internat mit Ethan und wusste, dass er auf seinen Vater nicht gut zu sprechen war. Insgeheim dachte er häufig, dass er um nichts in der Welt mit Ethan tauschen wollte, auch wenn dieser dreimal so viel Erfolg bei den Mädchen haben konnte, wenn er nur einmal die Augen aufmachen würde. Es war offensichtlich kein Spaß, der einzige Sohn eines solchen Patriarchen zu sein, wie der alte Longmuir einer war.
Ethan ließ sich auf sein Bett fallen und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Sein Gesicht war mürrisch.
Tom stand auf. »Komm, geh mit zum Hockey, das vertreibt die schlechte Laune!«
»Nein, danke.« Er setzte sich abrupt auf. »Ich geh lieber runter in den Computerraum. Wir arbeiten da grad an einer kniffligen Sache und ich muss noch mal ins Forum schauen.«
»Verstehe: deine Linux-Module. Na gut, ich geh dann mal«, sagte Tom. »Wenn du magst, kannst du ja noch nachkommen.« Er zog seinen Schläger hinter seinem Bett hervor, ergriff seine Sporttasche, winkte seinem Freund zu und verließ den Raum.
Ethan nahm die schwarze Jacke seiner Schuluniform vom Haken und zog sie langsam über. Seine Gedanken kreisten immer noch um den Brief seines Vaters und er fühlte sich mehr und mehr in einer aussichtslosen Lage gefangen. Verdammt noch mal, wie sollte er seinem Vater nur klarmachen, dass seine Zukunftspläne für ihn rein gar nichts mit dem zu tun hatten, was sich Ethan vorstellte. Schon als Ethan damals auf dieses Internat sollte, hatte es heftige Kämpfe zwischen Vater und Sohn gegeben. Ethan verstand nicht, wozu das gut sein sollte – alle seine Freunde wechselten nach der Grundschule auf eine normale weiterführende Schule in Inverness, der nächsten größeren Stadt. Warum musste ausgerechnet er aufs Internat? Dieser verdammte Standesdünkel seines Vaters – sein einziger Sohn sollte doch nicht mit dem gewöhnlichen Volk zusammen aufwachsen, immerhin würde er einmal der Besitzer der exklusivsten Whisky Destillerie weit und breit sein, die hundertjährige Familientradition fortführen, verantwortlich für sämtliche Mitarbeiter und deren Angehörige sein, blablabla . . .
Ethan trat an den Schreibtisch und faltete den Brief fein säuberlich zu einem kleinen Flieger. Der blöde Whisky konnte ihm gestohlen bleiben. Und das Gerede über Tradition auch. Er öffnete das Fenster und ließ den Brief seines Vaters fliegen. Nachdenklich fuhr er sich durch die immer etwas verstrubbelt wirkenden Haare und sah dem Papierflieger
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