Der Ruf der Pferde
Patricia hob den Kopf und lehnte sich zurück. Sie war erleichtert, wieder allein zu sein. Tief in ihrem Innern wusste sie jedoch ganz genau, dass sie sich unmöglich benommen hatte. Sie war sich darüber im Klaren, dass sie den Freundinnen eigentlich nachlaufen und sich bei ihnen entschuldigen sollte. Doch gleichzeitig regte sich in ihr namenloser Zorn. Sie hasste die beiden dafür, dass sie so einfach zur Tagesordnung übergingen, obwohl sie noch auf dem Friedhof Rotz und Wasser geheult hatten. Gavin war auch ihr Freund gewesen, auch wenn er ihnen natürlich nicht so nahe gestanden hatte wie ihr selbst. Wie konnten sie so schnell vergessen, was geschehen war?
Und von ihr zu verlangen, dass sie sich auch noch um das Pferd kümmerte, das für Gavins Tod verantwortlich war – das war ja wohl das Allerletzte!
Doch tief im Innersten wusste Patricia, dass es nicht Seaspray war, dem sie die Schuld geben durfte. Schließlich hatte Gavin ihn angetrieben und sich damit selbst in Gefahr gebracht. Warum nur mussten sie um dieses blöde Eis wetten! War es denn nicht vollkommen egal, wer auf einem Turnier besser abschnitt? Was sollte dieser ewige kindische Wettstreit! Für so was waren sie beide ja wohl schon zu alt! Und sie hätten sich darüber im Klaren sein sollen, dass Sicherheit stets an erster Stelle rangierte.
Hätte sie ihn doch nur nicht ständig angestachelt! Dann hätte Gavin bei jenem letzten Hindernis, als Seaspray verweigerte, dem Schimmel möglicherweise lachend seinen Willen gelassen und sich gutmütig mit einem hinteren Rang begnügt. Doch ihre, Patricias, boshafte Bemerkungen im Ohr, wollte er es wohl trotz allem versuchen, schließlich konnte er es ja nicht auf sich sitzenlassen, dass sie ihn verspottete.
Patricia vergrub den Kopf zwischen ihren angezogenen Knien.
Wenn sie doch nur weinen könnte! Nicht einmal bei der Beerdigung wollten die erlösenden Tränen kommen und auch jetzt fühlte sie nur diese eisige Starre. Vermutlich hatte sie es nicht verdient, weinen zu dürfen.
Schließlich war sie an allem schuld.
4.
Es war Mai, der Himmel strahlend blau, die Sonne schien warm und ein milder Wind blies aus Süden. Von der wenig befahrenen Straße vor dem Haus her schallten Kinderstimmen und das Ploppgeräusch eines Balles. Ivan spielte mit seinen Freunden Fußball, er plante für sich eine spätere Profikarriere bei Celtic oder den Rangers – er hatte sich noch nicht endgültig für einen der beiden Vereine entschieden.
Das Fenster in Patricias Zimmer stand offen. Patricia saß auf dem Fensterbrett, an die Laibung gelehnt, die Knie hochgezogen. Ihre Mutter rügte sie immer, wenn sie sie so sitzen sah. Sie hatte Angst, Patricia würde noch hinausfallen.
Patricia war das egal. Sie konnte auf sich selbst aufpassen. Und selbst wenn sie hinausfiele – was machte das schon, dachte sie.
Mrs Mackintosh arbeitete im Garten. Sorgfältig hackte sie das Unkraut zwischen den sprießenden Mohrrübenpflanzen heraus und warf es auf den immer größer werdenden Haufen neben sich. Für Patricias Mutter war die Gartenarbeit eine heilige Handlung. Obwohl das Grundstück nicht sehr groß war – wie alle anderen in der Siedlung verfügte ihr Reihenhaus lediglich über eine kleine Grünfläche vor und einen handtuchschmalen Garten hinter dem Haus – setzte Mrs Mackintosh alljährlich ihren ganzen Ehrgeiz daran, ihre Familie mit möglichst viel frischem Gemüse zu versorgen.
Dieses Jahr wird sie immerhin nichts zu meckern haben, weil ich dauernd Möhren für die Pferde klaue, dachte Patricia bitter. Sie wusste, dass sich ihre Mutter freuen würde, wenn sie hinunterginge und ihr beim Jäten helfen würde. Aber sie brachte es nicht über sich. Sie ärgerte sich noch zu sehr über das Gespräch mit ihren Eltern vom Vortag.
Die wollten sie doch tatsächlich zum Psychiater schleifen!
»So geht es nicht weiter«, hatte ihr Vater gemeint. »Du hast deinen guten Freund verloren, da ist es verständlich, dass du trauerst. Aber allmählich ist es an der Zeit, dass du versuchst, darüber hinwegzukommen. Die Sache ist jetzt fast zwei Monate her und du schleichst immer noch herum wie ein Gespenst, isst nichts, gehst nicht aus dem Haus, redest mit keinem – das ist doch nicht mehr normal, findest du nicht?«
Patricia hatte ihn beinahe hasserfüllt angefunkelt. »Es kann dir doch egal sein, was ich mache!«
»Es ist uns nicht egal«, mischte sich die Mutter ein. Ihr Gesicht war kummererfüllt. »Wir machen uns Sorgen um dich,
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