Der Ruf Der Trommel
schon einmal einen Mann umgebracht?« Er formulierte es als Frage, doch sie wußte, daß es keine war. Der Muskel neben seinem Mund zuckte wieder - belustigt, dachte sie, überhaupt nicht schockiert -, und sie spürte einen Anflug von Ärger.
»Du denkst, ich kann das nicht, stimmt’s? Kann ich wohl. Glaub’ es mir besser, ich kann’s!« Sie spreizte ihre Hände, breit und stark, und umfaßte ihre Knie. Sie glaubte, sie könnte es tun, obwohl sich ihre Vorstellung davon, wie es geschehen könnte, ständig veränderte. Wenn sie es kaltblütig betrachtete, schien ein Schuß das beste zu sein - vielleicht der einzig sichere Weg. Aber als sie versuchte, es sich auszumalen, hatte sie die Wahrheit hinter dem alten Sprichwort »Er ist keinen Schuß Pulver wert« erkannt.
Vielleicht war er keinen Schuß Pulver wert; vielleicht würde sich auch der Schuß für sie nicht bezahlt machen. Wenn sie nachts ihre Decken von sich schleuderte, unfähig, auch nur dieses leichte Gewicht und die Erinnerung an den Zwang zu ertragen, dann wünschte sie sich nicht nur, ihn tot zu sehen - sie wollte ihn umbringen , schlicht, ergreifend und mit ganzer Leidenschaft. Sich mit bloßen Händen zurückholen, was man ihr auf dieselbe Weise genommen hatte.
Und dennoch… was würde es nützen, ihn zu ermorden, wenn er sie dann immer noch heimsuchte? Es gab keine Möglichkeit, das herauszufinden, außer, wenn ihr Vater es ihr sagen konnte.
»Wirst du es mir sagen?« platzte sie heraus. »Hast du ihn am Ende umgebracht - und hat es geholfen?«
Er schien darüber nachzudenken. Seine Augen wanderten langsam über sie hinweg, abschätzend zusammengekniffen.
»Und was würde es nützen, wenn du einen Mord begehst?« fragte er. »Es wird das Kind nicht aus deinem Bauch holen - oder dir deine Unschuld zurückgeben.«
»Das weiß ich!« Sie fühlte, wie ihr Gesicht heiß und rot wurde und wandte sich ab, über ihn genauso verärgert wie über sich selbst. Sie sprachen von Vergewaltigung und Mord, und sie wurde verlegen, weil er ihre verlorene Unschuld erwähnte? Sie zwang sich, ihn wieder anzusehen.
»Mama hat gesagt, du hast versucht, Jack Randall umzubringen - bei einem Duell in Paris. Was hast du dir davon erhofft?«
Er rieb sich das Kinn, dann atmete er durch die Nase ein und langsam wieder aus und starrte dabei auf die fleckige Felsendecke.
»Ich wollte mir meine Männlichkeit zurückholen«, sagte er leise. »Meine Ehre.«
»Und du denkst, meine Ehre ist es nicht wert, zurückgewonnen zu werden? Oder denkst du, sie ist ein und dasselbe wie meine Unschuld ?« Gehässig imitierte sie seinen Tonfall.
Seine scharfen blauen Augen fuhren zurück zu den ihren.
»Ist es für dich dasselbe?«
»Nein«, zischte sie durch zusammengebissene Zähne.
»Gut«, sagte er kurz.
»Dann antworte mir, verdammt noch mal!« Sie hieb mit der Faust auf das Stroh, doch der lautlose Schlag brachte ihr keine Genugtuung. »Hat dir sein Tod deine Ehre wiedergegeben? Hat es geholfen? Sag mir die Wahrheit!«
Schweratmend hielt sie inne. Sie sah ihn wütend an, und seine Augen starrten kalt in die ihren. Dann hob er den Becher abrupt an seinen Mund, kippte den Apfelwein in einem Zug hinunter und stellte den Becher neben sich ins Heu.
»Die Wahrheit? Die Wahrheit ist, ich hab’ keine Ahnung, ob ich ihn umgebracht habe oder nicht.«
Vor Überraschung klappte ihr der Mund auf.
»Du weißt nicht, ob du ihn umgebracht hast?«
»Das habe ich gesagt.« Ein leichtes Zucken seiner Schultern verriet seine Ungeduld. Er stand plötzlich auf, als könnte er nicht länger stillsitzen.
»Er ist in Culloden gestorben, und ich war dabei. Nach der
Schlacht bin ich auf dem Moor aufgewacht, und Randalls Leiche hat auf mir gelegen. Soviel weiß ich - aber nicht viel mehr.« Wie in Gedanken hielt er inne, kam zu einem Entschluß und schob das eine Knie vor. Er zog seinen Kilt hoch und wies mit einem Nicken nach unten. »Da.«
Es war eine alte Narbe, aber ihr Alter machte sie nicht weniger eindrucksvoll. Sie verlief an der Innenseite seines Oberschenkels und war gut dreißig Zentimeter lang. Ihr unteres Ende war so knotig wie das Kopfende einer Keule, der Rest eine geradere, wenn auch wulstige und gewundene Linie.
»Ein Bajonett, schätze ich«, sagte er und sah die Narbe leidenschaftslos an. Dann bedeckte er sie wieder mit seinem Kilt.
»Ich kann mich erinnern, wie es sich anfühlte, als die Klinge den Knochen traf, sonst nichts. Weder vorher noch nachher.«
Er holte tief und
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