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Der Ruf des Kolibris

Der Ruf des Kolibris

Titel: Der Ruf des Kolibris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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eigentlich nicht verlaufen. Alle Straßen waren nummeriert. Diejenigen, die von Nord nach Süd verliefen, hießen Carrera, und alle, die von Westen nach Osten gingen, hießen Calle. Ich war aus meinem Viertel San Patricio weit nach Osten geraten und befand mich nun in der Calle 110.
    Aus dem Wald sickerte feuchte Kälte. Grüne Frösche hüpften vom Fußweg. Diese Frösche fanden sich auch gern bei uns in der Dusche ein und klebten an der Wand. Mama hatte ziemlich gekreischt am ersten Morgen. Aber inzwischen hatte auch sie sich daran gewöhnt, dass in Kolumbien Sauberkeit und Ungezieferstatus einer Wohnung mit anderen Maßstäben zu messen waren. Die Frösche hüpften auch nicht herum, sie guckten nur, wenn man sich duschte, und sie fingen die Fliegen, Motten und sonstiges Insektenzeugs weg, von dem ich lieber nicht wissen wollte, wie es hieß.
    Ich dachte daran, umzukehren, da fiel mir im Grün des Waldrands ein blau gestrichenes Törchen zwischen zwei weißen Pfosten auf. Auf die Pfosten waren mit roter Farbe Gesichter einer alten indianischen Kultur gemalt. Sie hatten die Formen von Dreiecken oder Kreisen. Oben auf den Pfosten saßen in Stein geschlagene würfelförmige Köpfe. Der eine davon grinste, der andere heulte und zeigte Eckzähne.
    Und siehe da: Auf dem Grinsekopf turnte zirpend ein Seidenäffchen mit rotem Halsband herum. Es blickte mich mit verschreckten nussbraunen Augen an, stieß plötzlich einen spitzen Schrei aus, wobei ich seine nadelscharfen Eckzähnchen sehen konnte, und sprang in den nächsten Baum davon.
    Ich ging ans Tor und spähte in den Garten, konnte aber das Äffchen nicht mehr sehen. Ein schmaler, von Pfützen durchwebter Pfad führte bergan ins dunkle Grün. An den matschigsten Stellen lagen Holzbohlen. Am Ende einer Biegung ahnte ich ein kleines Haus, eine Hütte eher.
    Als ob der Affe oben Bescheid gesagt hätte, dass unten jemand war, kam jetzt ein kleiner Hund den Weg herabgekläfft. Er hatte wilde, lange braune Haare. Im Grunde sah er aus wie ein Seidenäffchen auf vier Pfoten. Er verschluckte sich fast vor Zorn. Oben am Ende des Wegs erschien außerdem eine alte Frau in bunten Kleidern, wie ich sie aus meinem Spanischunterricht in Deutschland von Fotos aus südamerikanischen Städten kannte: eine krasse Mischung aus Rot, Gelb, Violett und Blau. Es waren Farben, die sogar im Schatten leuchteten.
    Die Alte rief etwas, das ich nicht verstand, was aber den Hund zum Schweigen brachte, und kam den Weg herab. Sie ging ein wenig hüftlahm und schief auf ausgelatschten Plastikschlappen. Routiniert setzte sie die Füße auf die Steine und die Bohlen zwischen den Pfützen. Es wirkte leichtfüßig, obwohl sie dick und rund war und, wie gesagt, links immer ein wenig einknickte.
    Ihr Gesicht war rund, faltig und bronzefarben. Darin blitzten schwarze Augen aus schmalen Schlitzen. Ihr zu Zöpfen geflochtenes, schweres schwarzes Haar hatte silberne Strähnen. Sie war eine ungewöhnlich folkloristische Erscheinung in dieser so europäischen Stadt, wie aus Urzeiten hierhergezaubert. Vielleicht blieb ich deshalb wie gebannt stehen, statt einfach weiterzugehen. Die Alte hob die Hand und rief erneut etwas. Es klang wie: » Hola , Jasmin!«
    Meinte sie mich? Das konnte nicht sein.
    Sie lächelte breit und winkte. Zwischen ihren scharf gezeichneten Lippen blitzten zwei Goldzähne. Ich wollte mich nun doch abwenden, da rief sie noch einmal, und diesmal war kein Irrtum möglich.
    »Hallo, Jasmin!«
    Ich blieb stehen, wie gebannt, wie hypnotisiert, wie verzaubert. Vielleicht war sie eine Hexe. Ich wollte innerlich lachen: Das war total bescheuert. Es gab keine Hexen. Wirklich nicht? In Südamerika mit seinen alten Göttern, Medizinmännern und heilenden Frauen war alles anders. Wir hatten in der Schule García Márquez gelesen, Hundert Jahre Einsamkeit . Eine Geschichte von Ameisen, die die Macht übernahmen, Vorahnungen und Magie. Ich hatte das nicht so ernst genommen. Das war dichterische Freiheit. Kolumbianische Schriftsteller glaubten an Zauberei, aber ich nicht. Ich war Jasmin Auweiler aus Konstanz, sechzehn Jahre, und glaubte nicht an Zeichen, Vorahnungen und Flüche.
    Doch plötzlich war ich mir da nicht mehr so sicher. Wieso war ich hierhergegangen, wie war ich in diese Gegend gekommen? Was für ein seltsamer Zufall, dass ich hier das Äffchen wiedersah, das mir vor drei Stunden mindestens drei Kilometer weg von hier eine Uhr gestohlen hatte, die ich von einem indianischen Gärtner zurückbekommen

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