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Der Ruf des Kolibris

Der Ruf des Kolibris

Titel: Der Ruf des Kolibris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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halber Indianer. Das sagt er nur, weil er es zu was gebracht hat. Inzwischen ist das ein großes Thema hier, die Indianersprachen und die Kultur und all das. Und die Indígenas streiten untereinander darüber, ob man die Indianersprachen überhaupt aufschreiben darf. Wenn die Kinder die Sprache der Großväter lesen und schreiben könnten, dann könnte das die Autorität der Alten und Schamanen untergraben. Stell dir das vor!«
    Das half mir nicht wirklich weiter.
    Wir standen an der Essensausgabe in der Mensa. Elena entschied sich für Sauerbraten mit Kartoffelpüree. Sie liebte deutsches Essen, nur beim Nachtisch war sie konservativ und wählte Churros, ein knallsüßes spanisches Spritzgebäck, das in Fett ausgebacken wird. Ich suchte mir im Gegenzug das einheimische Gericht aus, Pollo a la Cazadora, Jägerinnenhuhn mit Reis.
    »Aber das mit dem Affen, das musst du anzeigen!«, sagte Elena, als wir uns mit unseren Tabletts einen freien Tisch suchten. »Wenn der in eurer Anlage klaut, dann bist du es deinen Nachbarn schuldig, finde ich. Vielleicht vermissen sie auch schon Schmuckstücke. Und eine Haushaltshilfe hat es abbekommen.«
    »Und wenn das Ganze keine Absicht war?«, gab ich zu bedenken. Ich musste schreien, so laut war es hier. »Er hat mir doch die Uhr sofort zurückgegeben, kaum dass er mich gesehen hat.«
    Elena zog die Stirn kraus. »Das gefällt mir gar nicht, Jasmin. Du bist zu vertrauensselig. Was, wenn er dich einfach nur auf den Balkon hat treten sehen, als der Affe ihm die Beute brachte? Da hat er gewusst, dass du ihn gesehen hast. Er war entlarvt. Also hat er gedacht, er gibt dir die Uhr besser gleich zurück. Dann kannst du ihn nicht wegen Diebstahls anzeigen.«
    »Aber er hat gar nicht viel zu mir gesagt.«
    Elena blickte mich fragend an. »Was hätte er denn sagen sollen?«
    »Er hätte irgendwas erklären können. Dass er das Äffchen gesehen hätte, dass es nicht seines wäre. Dass er auch nicht wüsste, wo es hingehört, dass es aber wohl was mitgenommen hätte aus meiner Wohnung und dass er selbst es ihm weggenommen hätte und mir jetzt zurückgeben wollte. So die Art. Wer einen Diebstahl vertuschen will, der gibt Erklärungen ab. Der versucht alles, damit man nicht denkt, es sei ein geplanter Diebstahl gewesen. Der muss reden, verstehst du, Elena?«
    Sie zuckte mit den Schultern. »Wenn du meinst.«
    Ein paar aus unserer Klasse kamen und setzten sich zu uns an den Tisch. Wir redeten über den Diplomatenball am kommenden Samstag. Er versprach eine altmodische britische Veranstaltung zu werden, mit Smoking, langem Kleid und »Etikette«. Wie üblich hatte sich Präsident Uribe angesagt. Aber wahrscheinlich würde mein Vater im letzten Moment einen Dienst im Krankenhaus vortäuschen, nur um nicht hinzumüssen. Deshalb brauchte ich mir über mein Kleid nicht wirklich Gedanken zu machen.
    Ich beschloss, nach dem Sportunterricht in die Bibliothek zu gehen, um herauszufinden, was Mama Lula hieß und wer Cuene war. Dort gab es massenhaft Bücher über die Kulturen der alten indigenen Stämme. Vielleicht erkannte ich sogar die Fratzen wieder, die auf die Torpfosten gemalt worden waren, und fand heraus, zu welchem Stamm die geheimnisvolle Alte vom Waldhaus gehörte.
    Montags stand Schwimmen auf dem Stundenplan. Das lag mir. Ich war größer als die meisten und etwas kräftiger, was beim Schwimmen gut war, und darum sogar schneller als die älteren Mädchen. Im Colegio wurde ziemlich viel Sport getrieben. Ich hatte mich für Schwimmen eingetragen und für Feldhockey.
    Gegen vier Uhr steckte ich wieder in meiner blauen Uniform – es wurde streng darauf geachtet, dass man sie nach dem Sport wieder anzog – und machte mich auf den Weg zur Bibliothek. Wieder einmal genoss ich es, dass die Schule so groß war, dass ich nicht alle nasenlang »Hallo« sagen musste. Nicht, dass ich was gegen das Hallo-Sagen hatte, das nicht, aber ich hatte zuletzt in meiner Schule in Konstanz zu viele schnippische Gegengrüße bekommen, und manche hatten mich gar nicht gegrüßt. Ich weiß nicht, was ich denen getan hatte, dass sie mich schnitten. Das weiß man meistens nicht, hatte mir Papa erklärt. Offenbar war es bei ihm im Krankenhaus auch so. Zu viel Neid und Missgunst. »Wenn einer was besser kann als andere«, hatte Papa gemeint, »dann wird er zur Zielscheibe von Hetze und Intrigen, und dann kann er machen, was er will, er allein kann das Klima nicht verbessern.«
    Der Lesesaal war ziemlich leer. Die meisten

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