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Der Ruf des Kolibris

Der Ruf des Kolibris

Titel: Der Ruf des Kolibris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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hatte ... Oder hatte ich mir das Äffchen nur eingebildet? Und wieso wusste die Alte meinen Namen?
    Ich stand da, als wären meine Schuhe festgeklebt, und schaute der Alten entgegen, die mit sicherem, aber schiefem Schritt über die Pfützen hüpfte, dass ihre Röcke schaukelten; als ob sie mich verzaubert hätte. Und wenn sie mir mit dem Daumennagel ein Kreuz auf die Stirn geritzt hätte, ich hätte es geschehen lassen wie ein Opferlamm.
    Etwas außer Atem langte die Alte am Tor an. In ihren schwarzen Augen funkelten unheimliche Geschichten von Opfern und Heldentaten, von Liebe und Tod, die Mythen alter Kulturen aus den Zeiten vor der blutigen Eroberung durch die Spanier. Sie lächelte und wischte sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. So alt, wie ich erst gedacht hatte, war sie wohl doch nicht. Jedenfalls nicht hundert Jahre oder so, sondern vielleicht siebzig oder vielleicht auch nur fünfzig? Hierzulande wurde eine Frau schnell Großmutter, denn viele Mädchen brachten mit vierzehn ihr erstes Kind auf die Welt.
    Sie zog von innen den Riegel der blauen Gartentür zurück und sagte: » Pasa , Jasmin! Komm rein.«
    »Sie kennen mich?«, fragte ich ziemlich blöde. »Woher denn? Ich kenne Sie nicht. Wir sind uns nirgendwo begegnet. Sie können mich nicht kennen!«
    Sie lachte meckernd. »Die blauäugige Jungfrau von El Rubí , wie sollte ich dich nicht kennen?«
    Ich erschrak. Sie hatte » virgen « gesagt, Jungfrau. Wie kam sie dazu? Sah man mir das etwa an? Und woran sah man das? Es war total peinlich! Es war das Schlimmste, was mir an diesem Scheißsonntagmorgen noch hatte passieren können. Nicht einmal meiner Tante Valentina hatte ich gestanden, dass ich noch nie was mit einem Jungen gehabt hatte. Auch wenn sie wahrscheinlich ahnte, dass sich hinter meinen Besuchen bei Simon nicht unbedingt das verbarg, von dem ich gerne wollte, dass sie es glaubte. Und die anderen Jungs auch.
    Wenn mich die Erwachsenen fragten, ob ich denn »schon einen Freund hätte«, dann pflegte ich zu antworten: »Momentan nicht.« Dann dachten sie, ich hätte mich getrennt oder so. Allein ihr »schon« war eine Unverschämtheit. Ich fragte die Freunde und Bekannten meiner Eltern, etwa die Frau vom Professor, doch auch nicht, ob sie schon mal geschieden worden seien oder einen Geliebten hätten. Aber mich fragten sie, ob ich »schon einen Freund« hätte. Und was ich denn mal werden wollte und so weiter.
    Und jetzt die Alte. Jungfrau! Ja gut, ich war sechzehn und noch Jungfrau, aber wen ging das was an? Stolz war ich bestimmt nicht darauf. Ich hatte nicht vor, meine Jungfräulichkeit mit in irgendeine Ehe zu bringen. Im Gegenteil. Dem Jungen, mit dem ich eines Tages zum ersten Mal schlafen würde, dem würde ich gar nicht sagen, dass ich noch nie vorher mit einem anderen was gehabt hatte. Er sollte sich nichts darauf einbilden, dass er der Erste war. Ich würde einfach sagen, dass ich gerade meine Tage bekommen hätte.
    »Woher kennen Sie mich?«, fragte ich noch einmal und reichlich verärgert.
    Die Alte lächelte mit blitzenden Goldzähnen. »Ich bin Mama Lula Juanita. K’lum und Cuene erzählen mir alles.«
    »Wer?«
    »Der Kobold und der Gott des Blitzes.«
    »An so was glaube ich nicht! Lassen Sie mich in Ruhe, ja? Und wenn ich den diebischen Affen noch einmal bei mir sehe, dann gehe ich zur Polizei! Jetzt weiß ich ja, wo er hingehört.«
    Die Alte wurde schlagartig ernst.
    Jetzt wird sie mich gleich verfluchen, dachte ich. Das musste ich mir nicht anhören. Ich drehte mich einfach um und rannte los. Ein Donnerschlag dröhnte über der Stadt. Irgendwo ging gerade ein Gewitterregen nieder. Bogotá war so riesig, dass immer irgendwo anderes Wetter herrschte als dort, wo man selbst gerade war.
    Ich lief direkt nach Hause und verbrachte den Rest des Tages mit Musikhören und meinen Schulbüchern, in denen ich kaum las. Am Nachmittag kamen meine Eltern wieder. Papa war fröhlich, Mama hatte Migräne und legte sich ins Bett. Ich erzählte ihnen nichts von dem, was ich erlebt hatte.

de

– 4 –
     
    W as hat die Alte gesagt?«, fragte Elena, als ich in der Mittagspause Zeit fand, ihr ausführlich von meinen Sonntagsabenteuern zu erzählen.
    »Es klang wie Lula und Klumm. Und dann sagte sie was von Cuene, das soll ein Gott des Blitzes sein. Und dann hat es auch noch gedonnert.«
    Elena blinzelte nachdenklich. »Irgendeine Indianersprache. Ich kenne mich da nicht aus. Auch wenn mein Papa seit Neuestem stolz verkündet, er sei selber ein

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