Der Ruf des Kolibris
reiße ihn auf.
Er enthält mehrere Seiten. Zwei davon sind Kopien eines Zeitungsberichts auf Spanisch mit einem Foto. Und sie schreibt, dass es ihr den Umständen entsprechend gehe. »Was will man machen, das Alter!« Sie will nach England ziehen. »Dort regnet es auch ständig, aber das Essen ist besser.«
Dann erzählt sie, dass Elena Perea vor einem Jahr John Green geheiratet hat und unlängst mit ihm, sehr zum Kummer ihrer Eltern, nach Kenia gegangen ist, wo er als Militärattaché für mindestens drei Jahre Dienst tun muss. »Und es geschieht ihm recht, finde ich«, fährt sie fort, »hat sich unser John Green doch als charakterschwächer erwiesen, als ich es einem britischen Diplomaten jemals zugetraut hätte. Aber ich vermute, er hat es dir nie verziehen, liebe Jasmin, dass du ihn nicht erhört hast und er sich mit Elena begnügen musste. Anders kann ich mir die Falschinformationen nicht erklären, die er mir im Bewusstsein, dass ich sie dir weiterberichten werde, untergeschoben hat. Ein rachsüchtiger Mensch, scheint mir.«
Meine Hand beginnt zu zittern. Wovon redet sie?
»Aber lies selbst.«
Mit fliegenden Fingern ziehe ich den Ausschnitt eines Artikels aus El Tiempo , der Tageszeitung von Bogotá, unter ihrem Brief hervor. Erst begreife ich nicht, warum sie ausgerechnet den beigelegt hat. Es geht um die Wasserversorgung. » Carta al Gobernador del Cauca «, lautet seine Überschrift. »Brief an den Gouverneur des Cauca.« Die Unterzeichner des Briefes drücken ihre Besorgnis über irgendwelche Pläne zur Wasserversorgung aus. Sie haben sicher recht. Kolumbien eben.
Das Foto fällt mir ins Auge.
Auf ihm sind, um ein Rednerpult gruppiert, drei Menschen zu sehen. Die Frau erkenne ich sofort: Es ist Rocío aus dem Büro des CRIC. Neben ihr steht der Bärtige, den Leandro, Elena, mein Vater und ich ebenfalls in diesem Büro kennengelernt hatten. Iván, der Freund von Rocío.
Mein Herz beginnt zu flattern.
Hinter dem Rednerpult steht eine dritte Person. Es ist ein Mann. Er trägt einen dunklen Anzug mit Krawatte und hat die Hände erhoben, als würde er eben zu Leuten sprechen, die man nicht sieht. Seine Haltung ist ungemein selbstsicher. Eine eigenartige Kraft geht von ihm aus. Sein Haar ist pechschwarz und kurz geschnitten, seine Augen sind schmal und dunkel wie Kohle, sein Gesicht trägt indianische Züge, die unterstrichen und zugleich gebändigt werden durch die Insignien der Zivilisation und des Erfolgs. Er sieht unverschämt gut aus. Fast hätte ich ihn nicht wiedererkannt.
Er lächelt darüber. Er lächelt mich an. Es ist ein zurückhaltendes, ein fragendes Lächeln, das nur mir gilt. »Na, Jasmin. Was denkst du? Wann werden wir uns wiedersehen?« Seine Augen blicken mich direkt an. Er streckt die Hände nach mir aus.
Ich muss mich setzen.
»Er hat«, schreibt Felicity Melroy, »nach der Geiselbefreiung, wie es heißt, einige Jahre im Ausland verbracht. Hätte ich in den letzten Jahren aufmerksamer die kolumbianischen Zeitungen gelesen, wäre mir sein Name wohl längst schon einmal aufgefallen.«
Das Blatt zittert so sehr in meinen Händen, dass ich kaum lesen kann, wer die Unterzeichner dieses offenen Briefs an den Gouverneur des Cauca sind. Endlich kann ich unter den zahllosen Namen unten auf der Seite den einen einzigen einfangen, den ich suche: Dr. Damián Dagua, Director de la Universidad de Piendamó, Comunidad La María.
»Jasmin, ich warte auf dich«, sagt er leise.
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Impressum
Lehmann, Christine:
Der Ruf des Kolibris
ISBN 978 3 522 65142 4
Einbandgestaltung und -typografie: Gundula Hißmann und Andreas Heilmann, Hamburg
E-Book-Konvertierung: KCS GmbH, Buchholz/Hamburg
© 2009, 2011 by Planet Girl Verlag
(Thienemann Verlag GmbH), Stuttgart/Wien
Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung werden zivil- oder strafrechtlich verfolgt.
Alle E-Books im Internet unter:
www.planet-girl-verlag.de
de
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Christine Lehmann
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ab 13 Jahren
ISBN 978 3 522 65008 3
Wenn eine Rose in der Wüste blüht. Als Finja dem geheimnisvollen jungen Scheich Chalil nach Dubai folgt, glaubt sie an die große Liebe. Und verliert sich in seiner Welt aus Sand und Träumen. Überwältigend schön ist sie – und gefährlich. Lebensgefährlich. Hin- und hergerissen zwischen
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