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Der Ruf des Kolibris

Der Ruf des Kolibris

Titel: Der Ruf des Kolibris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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Büro des CRIC in Popayán an. Aber Rocío konnte oder wollte mir nie etwas anderes sagen als: »Ich habe nichts Neues für dich. Es tut mir leid.« Von Damián Dagua keine Spur. Über die Geiselaktion konnte sie mir auch nicht viel mehr mitteilen, als in den Zeitungen gestanden hatte. Immerhin wusste sie, dass Tanos Guerillagruppe vollständig aufgerieben und er erschossen worden war. Iván war auch einmal oben in Yat Pacyte gewesen und hatte das Haus verlassen gefunden. Es hieß, die Familie sei nach Peru gegangen.
    Felicity Melroy war es schließlich, die zwei Monate später in einem Brief meiner Unrast, meiner verzweifelten Hoffnung und meiner fanatischen Suche jäh ein Ende setzte. John Green hatte ihr im Vertrauen und auch nur, weil er wusste, dass ich mich seinerzeit für Damián Dagua interessiert hatte, mitgeteilt, dass der Verbindungsmann des Militärs bei der Geiselbefreiung ums Leben gekommen sei. Einer der FARC-Rebellen habe den Verrat erkannt und ihn hinterrücks erschossen.
    Meine Mutter war zu sehr mit ihrer Depression beschäftigt und mein Vater mit seiner Flucht in die Arbeit, um zu merken, dass ich viele Monate lang nur noch ein Zombie war. Meine tote äußere Hülle besuchte meine Mutter in der Klinik, ging in die Schule, sprach mit Vanessa, schrieb Tests, saß am Esstisch, ging schlafen, stand auf.
    Nur Simon erzählte ich alles.
    Er trug inzwischen eine andere, eine moderne Uhr am Handgelenk und legte die Uhr seines Vaters, das Pfand meiner Wiederkehr, in eine Schreibtischschublade, als ich sie ihm zurückgab. Sie hatte mir kein Glück gebracht, und dennoch hätte ich auf nichts von dem, was ich erlebt und erfahren hatte, verzichten mögen. Ohne die Uhr hätte ich Damián nie kennengelernt. Ohne sie hätte ich nicht erfahren, was Liebe ist, hätte die sieben Leben der Liebe nicht gelebt. Ich hätte den Schrecken nicht erfahren, den es bedeutete, plötzlich zu wissen, dass man liebt, den und keinen anderen. Ich hätte die Blindheit nicht erlebt, die von der Liebe verursacht wird und den Menschen, den man liebt, zum Klügsten, Schönsten und Wertvollsten macht, was man je bekommen kann. Ich hätte die Wandlung nicht durchgemacht vom verliebten Mädchen zur liebenden Frau mit all den Sehnsüchten nach Sinnlichkeit und körperlicher Erfüllung. Auch die Schattenseiten hätte ich nicht kennengelernt: die Zerstörung, welche die Liebe anrichtet, den Bruch mit der Familie, die Schmerzen des Erwachsenwerdens und der Erkenntnis, dass ich allein war und mich sogar gegen meine Familie stellen musste. Ich hätte nie gewusst, was es heißt, ein Opfer zu bringen, nämlich jenes, das Damián mir hatte bringen wollen, indem er mich zurückwies, damit ich niemals die Schmerzen litt, die ich jetzt litt, und das er gebracht hatte, indem er sein Leben opferte für die Befreiung der unglückseligen Susanne Schuster, die sich selbst in Gefahr gebracht hatte. Nur das Wesen des siebten mystischen Lebens der Liebe hatte ich noch nicht verstanden: die Erlösung.
    Simon meinte, ich müsste wahrscheinlich erst alt und weise werden, um eines Tages zu verstehen, warum es so hatte kommen müssen, und um zu wissen, wozu es gut gewesen sei.
    Die Uhr hatte mir das Glück gezeigt, wenn auch nur für kurze Zeit. Vielleicht war es ein zu großes, ein zu einmaliges Glück gewesen, als dass es hätte andauern können. Vielleicht aber hatte Simons Bedingung, dass ich sie ihm wiederbrachte, mein Glück am Ende durchkreuzt. Natürlich glaubte ich das nicht wirklich, zumindest hätte ich es niemals anderen gegenüber ausgesprochen. Aber wenn ich in Kolumbien eines gelernt hatte, dann, wie mächtig ein Zauber sein konnte, wenn wir ihn zuließen.
    In vielen Gesprächen mit Simon wurde mir auch klar, dass ich nicht Medizin studieren würde. Mein Vater hatte richtig beobachtet: Krankheiten interessierten mich nicht. Bei Clara hatte ich gesehen, dass ernste und reale körperliche Leiden von einem schweren seelischen Leiden verursacht werden konnten. Und das hatte mich viel mehr interessiert.
    Simon schlug vor, dass ich Psychologie studierte und mich besonders mit der Wirkung magischer Zeremonien auf die Psyche des Menschen beschäftigte. Denn deren Wirkung hatte ich immerhin am eigenen Leib erfahren.
    Simon machte sein Abitur ein Jahr vor mir und bekam einen Medizinstudienplatz in Berlin. Als ich mein Abitur hatte, stand für mich fest, dass ich auch nicht Psychologie studieren würde. Denn eigentlich interessierte ich mich am meisten für

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