Der Ruf des Kolibris
brennenden Augen darauf starren und hoffen, dass sich im nächsten Augenblick eine Botschaft von Clara oder Damián öffnete. »Ich bin okay. Wir treffen uns morgen. Ich rufe dich an. Alles wird gut. Ich liebe dich.«
Morgen schon, wenn die Zeitungen herauskamen mit der jubelnden oder winkenden Susanne Schuster auf der Titelseite, würde ich am Ende des Artikels die Namen der Todesopfer lesen – »Damián Dagua, 20 Jahre« –, falls tote Guerilleros den Journalisten überhaupt eine namentliche Würdigung wert waren.
O Gott!
Ich machte den Fernseher an und landete bei einem amerikanischen Nachrichtensender. Auch der brachte es groß, ließ Reporter sprechen, zeigte Leichen. Während ich, der Ohnmacht nahe, Gesichter zu erkennen versuchte, war ich zugleich unendlich dankbar, dass weder mein Vater noch meine Mutter zu Hause waren. So musste ich wenigstens meine Verzweiflung nicht verstecken. Und es war auch niemand da, der sagte: »Siehste mal! So einer war das!« Oder: »Vielleicht besser so!« Oder: »Das Leben geht weiter. Es wäre sowieso nicht gut gegangen mit euch beiden.«
Ich glaube, ich saß einfach da und heulte.
de
– 44 –
A cht Jahre sind seitdem vergangen. Es waren keine schlechten. Ich habe mich gefangen, ich stehe mit 24 Jahren an der Schwelle zum Berufsleben. Ich werde für ein Jahr nach Bolivien gehen und meine Abschlussarbeit über das Quechua, die Sprache der Inkas und ihrer Nachfahren, und das Guaraní der Regenwaldvölker an der Grenze zu Brasilien machen.
Simon ist mir noch immer ein guter Freund, aber der Mann, mit dem ich leben werde, ist er nicht. Er erinnert mich zu sehr an meinen Vater, er ist mit ganzer Leidenschaft Arzt. Leider hat er es erst kapiert, als ich ihm vor zwei Wochen mitteilte, dass es jetzt ernst werde und ich für ein Jahr nach Bolivien gehen würde.
»Dann siehst du also keine Zukunft für uns beide«, sagte er bestürzt und gekränkt.
»Doch«, antwortete ich. »Wir werden immer Freunde bleiben, hoffe ich.«
Ich bin sicher, er wird sich damit abfinden. Er hat seine Karriere. Er wird eine Frau finden, die ihm Kinder schenkt und sein Familienleben organisiert.
Er hat es verdient.
In all den Jahren hat mir die Erinnerung an Mama Lula Juanitas Reinigungszauber geholfen. Immer wenn ich dachte, es geht nicht mehr, umfasste ich die Kautschukkugel, die ich an dem wundersam haltbaren Pflanzenfaserband bis heute um den Hals trage, und ließ die Wärme in mich strömen. Dann senkte sich Ruhe in mein Gemüt. Und die Bilder von Damián, die Erinnerung an seine Berührungen, an seine Küsse und seine Stimme verloren die Düsternis des endgültigen Abschieds und bekamen freundliche und heitere Farben. Ja, es war ein sehr mächtiger Zauber. Allmählich gelang es mir, zu akzeptieren, dass ich in den Monaten in Kolumbien etwas erlebt und erfahren hatte, was nur wenigen Menschen zuteilwird: die große Liebe, das unbeschreibliche Glück vollkommener Nähe.
Doch die erste Zeit in Deutschland war die Hölle. Ich war innerlich tot, als wir ins Flugzeug stiegen, aber niemand merkte es. Ich lebte wie in Trance. An Gefühle erinnere ich mich nicht mehr, nur noch an die totale Finsternis, an Erstarrung und absolute Gleichgültigkeit. Ich lebte, aber es war mir egal, wo und wie. Meine Mutter kam zunächst in die Psychiatrische Klinik Weisenau bei Konstanz, wo ihre Depression behandelt wurde, und ich wohnte erst einmal bei Tante Valentina in ihrer großen Etagenwohnung. Als mein Vater sechs Wochen später zurückkam, bezogen wir ein Haus am Seeufer mit Bootssteg und Enten. Meine Mutter kam irgendwann auch wieder zu uns. Sie kündigte ihren Job im Labor und begann zu malen.
Ich glaube, meine Eltern haben nie wahrhaben wollen, wie sehr ich Damián geliebt habe. Sie merkten zwar, dass ich unter dem litt, was Erwachsene mit diesem gewissen Schmunzeln »Liebeskummer« nannten, aber sie dachten wohl, Damián sei nur eine Schwärmerei gewesen. Ich habe ihnen bis heute nicht erzählt, dass ich schon die Koffer gepackt hatte, um mit ihm zu gehen. Sie haben nie begriffen, dass ich nicht um eine Liebe trauerte, aus der einfach nichts geworden war, sondern um einen Toten.
Sein Name war in den Zeitungsberichten und Nachrichten über die triumphale Geiselbefreiung von Susanne Schuster nie aufgetaucht. Noch Tage und Wochen danach durchsuchte ich wie besessen stunden-, ja tagelang die Internetzeitungen nach ihm. Ich schrieb E-Mails an alle, die ich in Kolumbien kannte, ich rief mehrmals im
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