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Der Ruf des Kolibris

Der Ruf des Kolibris

Titel: Der Ruf des Kolibris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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irgendeinem Grund war es wichtig, dass ich ein Andenken behielt. In meiner Hand fand sich ein Engelchen ein, das in einem Halbmond saß, hingebungsvoll sang und mit den Beinen baumelte. Man konnte es an den Weihnachtsbaum hängen. Also das.
    Ich bezahlte, die Verkäuferin steckte es mir in ein Tütchen, ich versenkte es in meiner Jackentasche und wandte mich zurück zum Marktplatz, wo mein Vater und seine Studenten immer noch ihren Glühwein tranken. Ich fühlte mich müde und ausgelaugt. Obendrein hatte ich fast die Hälfte meines Weihnachtsgeschenkbudgets für ein Erzgebirgsengelchen ausgegeben, für das ich keinerlei Verwendung hatte. Jutta fand diese Art von Christbaumschmuck kitschig. Sie duldete nur selbst gebastelte Strohsterne und Bienenwachskerzen. Und dieses Jahr würden wir ohnehin keinen Baum haben. Wir würden in Dubai sein. In dieser islamischen Gegend feierte man Weihnachten nicht.
    Am Stand waren die Studenten und mein Vater bei einer weiteren Runde Glühwein angelangt und ziemlich fröhlich. Mein Glas mit dem kalt gewordenen Wein stand auch noch dort und ich wäre am liebsten umgekehrt. Doch dann traf es mich wie ein Blitz.
    Da stand er ja! Zwischen Boris und meinem Vater mit hochgeschlagenem Mantelkragen, das Kinn im Schal. Im gelben Licht der Standbeleuchtung schimmerte seine Haut wie Samt. Sie war deutlich dunkler als die seiner Kommilitonen. Eine Hand steckte tief in der Manteltasche, mit der anderen hob er gerade einen Kaffeebecher an die Lippen. Dampf stieg auf, fing einige Schneeflocken ab und verwandelte sie in Tropfen.
    Und mit einem Schlag wusste ich, wer er war: Chalil ibn Nasser as-Salama. »Unser Scheich«, wie mein Vater ihn immer genannt hatte. »Blitzgescheit.«
    Er war der Sohn des Scheichs, dem mein Vater und sein Institut den Auftrag in Dubai verdankten. Er studierte seit einem Jahr bei meinem Vater und hatte gerade sein Diplom gemacht.
    »Chalil«, rief mein Vater, als ich bei ihm anlangte, »darf ich dir mein Spätzelchen vorstellen, meine Tochter Finja?«
    Eben noch hatten Chalils Augen aufgeblitzt – schwer zu sagen, ob erfreut oder irritiert, zumindest aber überrascht –, doch im nächsten Moment schon legte sich ein höfliches Lächeln auf seine Lippen. Er nickte und streckte mir die Hand über den Mülleimertisch entgegen. »Angenehm«, sagte er.
    Zwei kleine steile Falten standen ihm zwischen den Augenbrauen. Wahrscheinlich fragte er sich, was »Spätzelchen« hieß. Seine Hand berührte meine nur kurz, statt sie zu drücken. Sie war warm und trocken.
    »Finja ist unser Maskottchen«, rief Boris lauthals. »Ich kenne sie schon, seit sie noch so war.« Er hielt die Hand in Hüfthöhe. Dabei kannte er mich höchstens seit zwei Jahren. »Kein Weihnachtsmarkt ohne Finja«, fuhr er fort. »Das musst du wissen, Kalil!« Boris machte sich gar nicht die Mühe, das kehlige Ch auszusprechen. Er machte gleich ein K daraus. Es klang aggressiv.
    Chalil lächelte höflich und wich meinem Blick aus. Vermutlich starrte ich ihn viel zu hemmungslos an.
    »Es ist ein interessanter Markt«, sagte er dann. »Typisch deutsch.«
    »Stuttgart hat den größten Weihnachtsmarkt in Deutschland«, behauptete Boris. »Auch, wenn der Nürnberger Christkindlesmarkt berühmter ist.«
    Chalil nickte.
    »Aber wenn du nur Kaffee trinkst, Kalil, dann kriegst du nicht das richtige Feeling. Du musst den Glühwein wenigstens mal probieren. Wir sind hier in Deutschland. Da gehört das einfach dazu. Euer Mohammed wird schon nichts dagegen haben.«
    Wieder huschte ein Anflug von Ärger über Chalils Gesicht. Er zog die Brauen zusammen wie vorhin, als ich den Scherz über Jesus gemacht hatte. »Wir haben auch guten Wein in Dubai«, sagte er, offenbar darauf bedacht, dem streitlustigen Unterton des Gesprächs auszuweichen.
    »Aber ihr Moslems dürft ihn nicht trinken, nicht wahr?«, hakte Boris nach.
    »Der Koran verbietet Alkohol, das ist richtig«, antwortete Chalil. Er sprach das Buch der Bücher Kur’an aus. »Aber in Dubai sind wir nicht so streng. Die großen Hotels haben alle Lizenzen zum Alkoholausschank.«
    Auf einmal wurde mir klar, dass sein so fromm klingender Spruch über das Spenden und die Armen das Zitat einer Sure aus dem Koran gewesen sein musste. Und meine spöttische Bemerkung, er sei wohl Jesus, war womöglich eine Beleidigung seines Glaubens gewesen. Keine Ahnung. Wir hatten zwar den Islam in der Schule durchgenommen, doch ich hatte nicht wirklich aufgepasst.
    »Aber bei euch dürfen die

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