Der Ruf des Kuckucks: Roman (German Edition)
wieder.
»Okay«, sagte Strike vorsichtig. Er hoffte, dass Bristow ihn nicht mit einem Medium verwechselte.
»Es geht um meine Schwester«, fuhr Bristow fort.
»Verstehe. Steckt sie in Schwierigkeiten?«
»Sie ist tot.«
Strike hätte fast ausgerufen: »Was, die auch?«, konnte sich aber gerade noch zurückhalten. »Das tut mir leid«, sagte er höflich.
Bristow quittierte die Beileidsbezeugung mit einem knappen Nicken.
»Ich … Es fällt mir nicht leicht. Zuallererst sollten Sie wissen, dass meine Schwester Lula Landry ist … war.«
Strikes Hoffnung, die sich ob der unerwarteten Aussicht auf einen neuen Klienten ein wenig aufgerichtet hatte, neigte sich, kippte vornüber und schlug ihm mit dem Gewicht eines Granitgrabsteins auf den Magen. Der Mann vor ihm litt offenbar unter Wahnvorstellungen, war womöglich sogar völlig durchgeknallt. Die Wahrscheinlichkeit, dass dieser käsige, hasenhafte Mann den Genpool mit Lula Landrys bronzehäutiger, gazellenhafter, strahlender Schönheit teilte, war so gering wie die, zwei identische Schneeflocken zu finden.
»Meine Eltern haben sie adoptiert«, sagte Bristow verlegen, als hätte Strike seine Gedanken laut ausgesprochen. »Wir alle wurden adoptiert.«
»Aha«, sagte Strike. Er hatte ein außergewöhnlich gutes Gedächtnis; wenn er sich das große, kühle, gepflegte Anwesen und den sonnendurchfluteten, weitläufigen Garten vor Augen führte, tauchte auch eine blonde Mutter in seinen Erinnerungen auf, die über den Picknickkorb wachte; die einschüchternde, dröhnende Stimme des Vaters aus der Ferne; ein mürrischer älterer Bruder, der vom Obstkuchen naschte; natürlich Charlie selbst, der seine Mutter mit seinen Albernheiten zum Lachen brachte; aber kein kleines Mädchen.
»Sie konnten sie gar nicht kennenlernen«, fuhr Bristow fort, als hätte er erneut Strikes Gedanken gelesen. »Meine Eltern haben sie erst nach Charlies Tod adoptiert. Sie ist im Alter von vier Jahren zu uns gekommen. Davor war sie längere Zeit im Heim. Damals war ich fast fünfzehn. Ich weiß noch, wie ich in der Eingangstür stand und zusah, wie mein Vater sie die Auffahrt herauftrug. Sie hatte eine kleine rote Strickmütze auf dem Kopf. Die hat meine Mutter bis zum heutigen Tag aufbewahrt.«
Völlig unerwartet brach John Bristow in Tränen aus. Er schluchzte hinter vorgehaltenen Händen und ließ die zitternden Schultern hängen. Tränen und Rotz quollen zwischen seinen Fingern hervor. Jedes Mal, wenn er sich wieder unter Kontrolle zu haben schien, wurde er von neuen Schluchzern geschüttelt.
»Tut mir leid … Verzeihung … oh Gott …«
Keuchend und hicksend tupfte er sich die Augen hinter den Brillengläsern mit einem Papiertaschentuch ab und versuchte, die Fassung zurückzugewinnen.
Die Bürotür öffnete sich, und Robin schlüpfte mit einem Tablett herein. Bristow wandte sich mit bebenden Schultern von ihr ab. Durch die offen stehende Tür erhaschte Strike einen weiteren Blick auf die Frau im Kostüm; sie funkelte ihn über eine Ausgabe des Daily Express hinweg böse an.
Robin stellte zwei Tassen, ein Milchkännchen, ein Zuckerdöschen und einen Teller mit Schokoladenkeksen vor ihnen auf den Tisch – Strike hatte keinen dieser Gegenstände je zuvor gesehen –, lächelte routiniert und wollte schon wieder gehen, als Strike sie aufhielt.
»Einen Moment, Sandra. Könnten Sie …«
Er nahm ein Blatt Papier vom Schreibtisch und legte es auf sein Knie. Während Bristow leise Schluckgeräusche von sich gab, schrieb Strike so schnell und leserlich, wie es ihm unter diesen Umständen möglich war:
Bitte googeln Sie Lula Landry, finden Sie heraus, ob sie adoptiert wurde und, wenn ja, von wem. Sprechen Sie nicht mit der Frau im Vorzimmer darüber! (Wer ist das überhaupt?) Schreiben Sie die Antworten auf einen Zettel und bringen Sie ihn mir, ohne laut darüber zu reden.
Er reichte Robin das Blatt Papier. Sie nahm es wortlos entgegen und verließ den Raum.
»Tut mir leid … Tut mir wirklich leid«, keuchte Bristow, nachdem sich die Tür wieder geschlossen hatte. »Es ist … Normalerweise bin ich nicht … Ich war wieder bei der Arbeit, in einem Mandantengespräch …« Er atmete ein paarmal tief durch. Die geröteten Augen verliehen ihm Ähnlichkeit mit einem Albinokaninchen. Sein rechtes Knie federte immer noch auf und ab. »Es war eine schwere Zeit«, flüsterte er und holte tief Luft. »Erst Lula … und meine Mutter liegt im Sterben …«
Beim Anblick der Schokokekse lief
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